1947: Rudolf Schock als Lenski in 'Eugen Onegin' von Tschaikowsky (Quelle: Acanta 2LP 4023550) |
"Im Jahre 1985 produziert Acanta (Fonoteam GmbH, Hamburg) zum Schocks 70. Geburtstag unter dem Titel 'Collection Rudolf Schock' eine Vielzahl LP-Premieren aus der Periode 1946-1956. Es handelt sich dabei um Oper, Operette und acht russische Lieder. Die Lieder füllen die letzte Schallplattenseite der Doppel-LP 'Russische Opern, Lieder und Romanzen'(Acanta 40.23.550), worauf Rudolf Schock Musik von Mussorgsky, Tschaikowsky, Dargomyschski, Rimski-Korsakow, Glinka und Balakirew singt"
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"Mili Alexejewitsch Balakirew (1837-1910) und etwas früher Alexander Dargomyschski (1813-1869) werden für die Musik von Michail Glinka (1804-1857) entdeckt, dem ersten russischen Komponisten, dem es gelingt, eine nationale, jungrussische Musikkultur auf die Beine zu stellen. In dessen Kielwasser versammelt der energische Balakirew etwa 1865 eine Gruppe von Komponisten um sich, die die westlichen (Opern-)Einflüsse aus Italien und Frankreich mit der eigenen Volksmusik zu verbinden versuchen. Diese Gruppe, die sich selbst'Les Cinq (Die Fünf)' nennt und von Zeitgenossen ironisch als 'mächtiges Häuflein' angedeutet wird, besteht aus...."
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"Er (Rudolf Schock) pendelt singend und politisch möglichst neutral von Ost nach West und umgekehrt. U.a. in Ostberlin tritt er in der russischen Oper 'Sadko' von Rimski-Korsakow auf......die Sowjets bitten ihn dringlichst, in ihrem Ostberliner Rundfunkstudio aufzutreten...."
Bis soweit ein paar Zitaten aus 'Rudolf Schock singt Balakirew' von März 2011 als Einführung zu dem, was jetzt folgt.
Michail Glinka, Gemälde von Ilija Repin (1844-1930) |
Michail Glinka (1804-1857)
ist der selbstbewusste 'Godfather' der - was später genannt werden sollte - "grossen Periode der russischen Musik". Im Anlauf zu seiner Oper 'Schisn sa zarja Iwan Sussanin (Ein Leben für den Zaren)' schreibt Glinka: "Es scheint mir, dass ich fähig sei, unserem Theater ein Werk zu geben...bei dem das Sujet auf jeden Fall ein völlig nationales sein wird. Aber nicht nur das Sujet, auch die Musik. Ich will, dass meinde Landsleute sich im Theater wie zu Hause fühlen"
In Glinkas Musik spielt die russische Volksmusik eine führende Rolle, und die umfangreich eingesetzten Chöre und Ballette tragen visuell und auditiv kräftig dazu bei, eine Atmosphäre zu kreieren, die man als 'typisch russisch' bezeichnen könnte. Für die Sologesänge seiner Operngestalten schöpft Glinka dankbar aus der reichen Quelle der westeuropäischer Operntradition, aber auch zeigt er sich als "genialer Avantgardist auf dem Gebiet der Instrumentationskunst" ('Die Zeit': 'Der grosse Kulturführer'-2008). Sein Einfluss auf Mussorgsky, Rimski-Korsakow und Strawinsky ist denn auch unverkennbar.
Die grandiose Premiere der ersten russischen Volksoper 'Ein Leben für den Zaren' findet 1836 in St. Petersburg in Anwesenheit vom Zaren Nikolaus l. statt. Aber da Glinka darauf mit der Arbeit an 'Ruslan i Ljudmila' beginnt, auf revolutionären Texten des politisch umstrittenen Dichters Alexander Puschkin, stösst er mit der Zensur des zaristischen Regimes zusammen.
A. Puschkin 1827, Gemälde: V. Tropinin (1776-1857) |
'Die grosse Periode der russischen Musik' entwickelt sich aus der modernen, russischen Literatur, die in der Poesie und lyrischen, realistischen Prosa des grossen Alexander Puschkin zum ersten Mal eine feste Form annimmt. Verblüffend ist die Zahl der vielen, russischen Opern, wofür Puschkins Werk Modell stand:
Glinkas 'Ruslan i Ljudmila',
Dargomyschskis 'Russalka' und 'Der steinerne Gast',
Tschaikowskys 'Eugen Onegin' und 'Pique Dame',
Rimski-Korsakows 'Mozart und Salieri' und 'Der goldene Hahn',
Mussorgskys 'Boris Godunow',
Rachmaninows 'Aleko' usw.
Zar Nikolaus I |
'Ruslan und Ljudmila' (1842)
Michael Glinka befindet sich in misslicher Lage: auf der einen Seite muss er als Dirigent des Königlichen Orchesters dem Zaren treu bleiben, aber auf der andren Seite will er den von ihm bewunderten Alexander Puschkin nicht fallen lassen. Die Folge ist, dass er ein riskantes Katz und Mausspiel mit der Zensur treibt:
Glinka und Puschkin sollten anfangs vereinbart haben, letzterer solle nach seiner Heldendichtung 'Ruslan i Ljudmila' ein Libretto für Glinkas Oper schreiben. Dann stirbt aber Puschkin 1837 infolge des bekannten Duells. Glinka bittet den Dichter Walerjan F. Schirkow, zusammen mit ihm das Textbuch zu machen. Beide Männer halten das perfekt geheim, aber wenn die Oper 1842 Premiere hat, zeichnet auf einmal ein stolzes Kollektiv von SECHS Textdichtern (Glinka und Schirkow einbegriffen) als Verfasser des kompletten Librettos.
Noch spät im 20. Jahrhundert galt, dieser 'dynamische Gruppenprozess' habe sich wirklich so vollzogen (siehe z.B. 'Schallplattenführer für Opernfreunde' - Friedrich Herzfeld 1962). Bis dass genauere Untersuchungen deutlich machten, nur die Zusammenarbeit zwischen Glinka und Schirkow sei historisch glaubenswürdig. Die Untersucher stellten weiter kritisch fest, auch in der Zeit nach Fertigstellung des 'Gruppentextes' sei von den staatlichen Behörden noch allerhand gestrichen worden. Das macht verständlich, warum die Premiere von 'Ruslan i Ljudmila' erst 1842 stattfand, und Form und Inhalt des endgültigen Librettos das hohe Niveau von Puschkins ursprünglicher Poesie nicht erreicht.
Die Handlung von 'Ruslan i Ljudmila'
spielt sich in 'Russland, in einer märchenhaften Zeit' ab (Nikolai Rimski-Korsakow übernimmt Jahre später eine ähnlich phantastische Landschaft in den Opern 'Sadko' (1898) und 'Der goldene Hahn' (1909).
Ritter Ruslan (Bariton) und Ljudmila (Sopran), Tochter des Grossfürsten von Kiew, feiern ihr Hochzeitsfest. Unter den Gästen sind die abgewiesenen Freier Ratmir (Alt) und Farlaf (Bass) UND der Skalde (Dichter/Sänger) Bajan (Tenor), der zum Ernst ermahnt. Bajan schaut in seinem grossen Auftritt-mit-Chor auf die Vergangenheit zurück und wirft einen unheilverkündenden Blick in die Zukunft. Aber er sagt auch hervor, dass alles letzten Endes gut ausgehen wird, was der Chor mit jubelndem Massengesang bestätigt.
Ruslan i Ljudmila (Zeichnung: R. Ramazanow) mit rechtsoben Bajan |
Auf einmal erlischt dann das Licht, und wird Ljudmila von Ungeheuern weggeschleppt. Der Grossfürst möchte (fast) alles dafür hergeben, dass seine Tochter wieder nach Hause kommt: wer sie zurückbringt, bekommt ihre Hand. Ruslan zeigt, warum er ein Held ist, verschluckt mannhaft seine Enttäuschung und nimmt zusammen mit Ratmir und Farlaf unter dem Motto 'neue Runde, neue Chancen' sofort die Verfolgung auf. Die drei Werber kämpfen mit bösartigen Zauberern, verführerischen Zauberinnen und sogar mit einem sprechenden Kopf. An sich ist so etwas ganz normal, aber es wird etwas anderes, wenn dieser Kopf ein in uralten Zeiten abgeschlagener Riesenkopf ist. Im fünften Akt geht - wie vorhergesagt - die Schreckensgeschichte glücklich aus: Ruslan bricht mit einem Zauberring den Bann, worin die unheimlich tief schlafende Ljudmila sich befindet. Sie erwacht und wird jetzt für ewig mit Ruslan zusammen sein.
Bajans Auftritt mit Chor
im ersten Akt ist einer besonderen Aufmerksamkeit wert. Die Diplomarbeit von Magistra der Philosophie Svenja Ingensand, mit dem Titel 'Russische Opern nach Vorlagen von A.S. Puschkin' (Universität Wien 2010), ist mir dabei behilflich.
Svenja Ingensand weist darauf hin, Bajan singe in Wechselwirkung mit dem Chor (den Hochzeitsgästen auf dem Fest) eigentlich zwei Lieder, wovon das zweite bei der Opernpremiere im Jahre 1842 nicht ausgeführt werden durfte (Der Komponist veröffentlichte dieses verbotene Lied übrigens schon einige Jahre früher, nicht zufälligerweise kurz nach dem Tode Puschkins).
Glinka giesst beide Lieder in die Form der 'epischen (= erzählenden) Ballade' aus der damalig modernen, französischen Musikpraxis. Der erste Teil der 2. Ballade z.B. passt nahtlos zur Atmosphäre der westeuropäischen Salonlieder aus dem 19. Jht. Die daraus hervorgehende 'kleine' Begleitung für hauptsächlich Harfe und Klavier weicht bemerkenswert vom grosszügigen, symphonischen Orchesteraufwand in den meisten anderen Szenen der Oper ab.
Ein verbotenes Lied
Warum das 2. Lied - auf deutsch: 'Dort gen Mitternacht' - verboten wurde, wird beim Zuhören der beachtenswerten Berliner Funkaufnahme mit Rudolf Schock aus dem Jahre 1949 direkt deutlich.
Der Dichter und Sänger Bajan erinnert an ein nächtliches, wüstes und einsames Land, weit von hier, wo kaum ein Sonnenstrahl durch den Nebel dringen kann. Doch, es kommt die Zeit, worin gerade in diesem Land ein Sänger aufstehen wird, der "begeistert für den Ruhm seines Vaterlands singt" und der Ruslan und Ljudmila der Vergessenheit entziehen und wieder nach Hause führen wird. Leider war dem Sänger keine lange Zeit auf der Erde gegönnt, aber Bajan beendet das Lied mit den Worten: "Alle (und ausschliesslich-kdl) Unsterblichen sind im Himmelreich!". Und dann brechen Orchester und Chor nach russischer Art in eine vaterländische Hymne aus.
Der Zar und seine Regierung konnte unmöglich übersehen, um welches traurige Land und welchen unsterblichen Sänger es sich hier handelte. Glinkas Hommage an Puschkin hatte die Transparenz, wovon wir heutzutage so oft und gerne reden.
Standbild von Alexander Puschkin in St. Petersburg |
Rudolf Schock singt Michail Glinka
Es wird die Sowjets 1949, einige Monate vor der Gründung der DDR, dagegen keine einzige Mühe gekostet haben, diese Würdigung an einen revolutionären Dichter, der sich gegen eine reaktionäre Obrigkeit erhebt, hervorzuheben, mit grossem Chor aufzunehmen und auszustrahlen.
Rudolf Schock singt die Ballade mit einer schönen Mischung von Lyrik und Heroik. Diese Heroik lässt sich in seinem Gesang kaum noch bezwingen, aber anschliessend darf sie in der - übrigens nahezu unverständlichen - Chorszene ungehemmt offenbar werden. Artur Rother (1885-1972) dirigiert den Chor der 'Städtischen Oper Berlin' und das 'Sinfonieorchester des Berliner Rundfunks'. Die Aufnahme wurde am 2. März 1949 im russischen Sektor von Berlin gemacht.
Von den Downloads und obenerwähnten Acanta-LPs abgesehen, ist die etwas unbeachtet gebliebene, aber durchaus hörenswerte Aufnahme von 'Dort gen Mitternacht' doch noch zweimal auf CD zu haben:
- - bei 'Membran/Documents' unter Nr. 231.838 auf der Doppel-CD 'Das Schönste aus der Welt der Oper' mit gut gemasterten Funkaufnahmen aus osteuropäischen Opern.
- - beim Label 'Artone', auch von 'Membran/Documents', unter Nr. 222609-354. Diese zweisprachige Ausgabe (Dt/Engl) kombiniert in Buchformat 20 Textseiten und 4 CDs in ausreichender Tonqualität mit Oper/Operette aus Schocks Rundfunkperiode 1946-1958. Als Zugabe singt Rudolf Schock auf der 4. CD zwei russische Lieder: eines von Rimski-Korsakow und eines von Dargomyschski.
Alexander Dargomyschski Gemälde von K. Makovski (1839-1915) |
Dargomyschski begann sein erwerbstätiges Leben nicht als Künstler, sondern als Staatsbeamter. In seiner Freizeit komponierte er Lieder und Musik für das Instrument, worauf er zu Hause gern spielte: das Klavier.
Michail Glinka begegnet ihm im Winter 1833/34 und entdeckt, der junge Dargomyschski habe viel musikalisches Talent. Glinka bittet ihn, das Regeln von Konzerten zu übernehmen und schlägt vor, zusammen mit Dargomyschski als Klavierduo aufzutreten. Ich vermute, dass Dargomyschski ein bedachtsamer Mensch war, denn erst 10 Jahre später hat er den Mut, seine Kündigung aus dem Staatsdienst einzureichen.
Zunächst orientiert Dargomyschski sich über die grossen, historischen Opern von französischen Komponisten wie Meyerbeer und Auber. Es ist denn auch logisch, dass ein historischer Roman ('Notre-Dame de Paris' von Victor Hugo) den Stoff für seine erste Oper liefert. Die Premiere der Oper in Moskau (1847) ist zwar kein Erfolg, aber in St. Petersburg erntet 'Esmeralda' mehr Bewunderer. Inzwischen erblickt auch Dargomyschski das nationalistische Licht, tritt in die Spuren Glinkas, vertieft sich wie er in die russische Volksmusik und ruft begeistert aus: "Die Russen sind das beste Volk der Welt!".
Im Jahre 1855 hat eine zweite Oper ('Rus(s)alka') Premiere. Natürlich nach einem Schauspiel des unvergessenen Alexander Puschkin, und einige Jahre vor dem Tode setzt Dargomyschski sich an eine russische 'Don Giovanni': 'Kamennyi gost (Der steinerne Gast)'. Wiederum bildet ein Werk Puschkins die Vorlage. Aber dieses Mal ist der Plan äusserst ambitiös: Dargomyschski will -Wort für Wort - den vollständigen, buchstäblichen Text von Puschkins Vers-Epos 'Der steinerne Gast' in Opernmusik umsetzen. Es gelingt ihm aber nicht: im Jahre 1869 stirbt Dargomyschski. Nikolai Rimski-Korsakow und César Cui springen für ihn ein und stellen nachträglich die Oper fertig. 'Kamennyi gost' erlebt 1872 ihre Erstaufführung.
'Der steinerne Gast', Ausführung des Bolschoj-Theaters |
Rudolf Schock singt zwei Lieder van Alexander Dargomyschski
Neben Ballettmusik und Opern schrieb Dargomyschski viele Lieder für die Salons in St. Petersburg. Zwei davon nahm Rudolf Schock 1947 in Ostberlin auf. Wie so oft wurde er dabei von Dr. Adolf Stauch (1903-1981) auf dem Klavier begleitet (siehe auch: 'RS singt Bizet' und 'RS singt Brahms').
Beide Lieder rühren durch eine Schlichtheit, die Rudolf Schock wie auf den Leib geschrieben ist.
Die Texte von 'Bald wirst du an mich nicht mehr denken' und 'Bezaubere mich' sind - wahrscheinlich - von bzw. Schadowskaja und Schadowski. Das erste Lied erschien 1846, das zweite 1861.
Lustig sind die Lieder nicht:
'Bald wirst du an mich nicht mehr denken' ist die Prophezeihung eines/einer verlassenen Liebhabers/Liebhaberin, der/die einsam darüber trauert, dass seine/ihr Geliebte(r) einem neuen Leben entgegengeht, worin sie/er anderen Liebe schenkt. Und 'wie ich auch liebe, und wie ich auch leide, erfährt nur am Ende das Grab'.
In 'Bezaubere mich' dämmert vielleicht (aber ich glaube nicht - kdl) noch ein Hoffnungsschimmer: Es ist für den schüchternen Liebhaber eine 'geheime Freude' dem süssen Mädchen still zuzuschauen und zuzuhören. Aber er will wohl, dass sie die Initiative ergreift: zu ihm kommt, ihn anredet und ihn bezaubert.
Rudolf Schock und Adolf Stauch |
Die Dargomyschski-Aufnahmen mit Rudolf Schock/Adolf Stauch stehen auf dem 4CD-Set 'Kammersänger Rudolf Schock' von Gala (GL.100.672) zwischen Liedern von u.a. Schubert, Schumann, Brahms, Wolf, (Richard) Strauss, Pepping, Ebert, Balakirew, Tschaikowsky und sind ebenfalls als Download erhältlich.
In der Vergangenheit habe ich mich oft negativ über die enttäuschende Tonqualität der CDs geäussert (siehe: RS auf CD). Besonders die vielen, je stereo aufgenommenen Lieder von EMI hören wir hier mono mit dumpfen, 'hohen' Tönen. Nur die 4. CD mit u.a. den Dargomyschski-Liedern ist in Ordnung, wobei nicht stört, dass das Tonband der alten Funkaufnahmen etwas 'bejahrt' klingt. Es gibt eben keine andere Quelle als die an und für sich ausgezeichneten, alten Acanta-LPs.
Das Lied 'Bald wirst du an mich nicht mehr denken' existiert auch auf dem unter Glinka beschriebenen Buch/4CD-Set von 'Artone/Membran/Documents' unter Nr. 222609-354. Die Digitalisierung ist doch noch ein wenig besser gelungen als die auf Gala.
Krijn de Lege, 4.2.2012
Das nächste Mal: 'Rudolf Schock singt Christoph Willibald Gluck (1714-1787)'
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