03.04.20

RUDOLF SCHOCKS TONAUFNAHMEN IN VORGERÜCKTEM ALTER (1)

'Die Uhr' von Carl Loewe


Selbstverständlich hat sich Rudolf Schocks Stimme im Laufe der Jahre geändert.
Selbst sagte er darüber: "Meine Stimme ist einsetzfähig geblieben, in Erkenntnis veränderter Möglichkeiten".

Bekanntlich war seine Glanzzeit die Periode 1946-1964.
Dann - im Alter von 48 Jahren - nahm die Stimmqualität langsam aber sicher ab.
Jedoch, sein Gesang faszinierte weiterhin dank einer intuitiv tadellosen Herangehensweise an unterschiedliche Musikgenres und einem ungekünstelten, sehr gut verständlichen Vortrag. Bis zu seinem Tod.

'Tom der Reimer' von Carl Loewe


Im letzten Teil des Dokumentarfilms 'Rudolf Schock: Das singe ich auch!' wird das erörtert, und auf YouTube gibt es angebrachte Beispiele.
Ich bin daher nicht überrascht, dass einige davon außergewöhnlich oft gehört werden.
Dies gilt z.B. für die beiden (bearbeiteten) Teile aus Franz Schuberts "Deutsche Messe" von 1973, für "Im Kahne" von Grieg ebenfalls aus 1973, für "Tom der Reimer" von Loewe aus 1980, für Kálmáns opernhaftes "Komm Zigane" live aus dem Amsterdamer Konzertsaal 1985 und 1986 für Norbert Schultzes 'Gutenachtliedchen'.

Aufnahmen des Sängers in fortgeschrittenem Alter:
> 'Gutenachtliedchen' (1948) von Norbert Schultze (1911-2002):













Das Schlafliedchen erinnert an die deutschen und österreichischen Heimkehrer, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt sind.
Rudolf Schock sang es in seinem Todesjahr 1986 in einer Radiosendung zum 75. Jahrestag des Komponisten Norbert Schultze.

Norbert Schultze, Komponist des weltberühmten Soldatenliedes 'Lily Marleen' (1938), entpuppte sich im 2. Weltkrieg zu einem nicht unbedeutenden, propagandistischen Rad in der Kriegsmaschine des deutschen NS-Regimes.
Nach dem Krieg wurde er im Rahmen der "Entnazifizierung"  als "Mitläufer"  qualifiziert.
Tatsache ist aber, dass er danach alle zwischen 1933 und 1945 erhaltenen Gelder testamentisch dem Deutschen Roten Kreuz vermachte.
Schultze schrieb bereits 1948 sein 'Gutenachtliedchen', veröffentlichte es aber erst 1986. Er begleitet Rudolf Schock am Klavier bei dieser Erstausführung.

> 'Es neigt sich der Tag', Lied von Cornelius Suythof aus der Oper 'Rembrandt van Rijn' (1937) von Paul von Klenau (1883-1946):
RUDOLF SCHOCK: "Ich hatte die schöne Arie des Cornelius durch eine sehr alte Schallplatte von Marcel Wittrisch (1901-1955) kennengelernt.
Hiermit und mit Hilfe einiger erhaltener Violinstimmen - das Orchestermaterial ist im Krieges zerstört worden - hat mein Freund Fried Walter (Schocks Dirigent) die Partitur sorgfältig rekonstruiert und damit ein besonders schönes Beispiel spätromantischer Operntradition der Vergessenheit entrissen".

AUS DEM BLOGTEXT: 'RS SINGT ALBAN BERG':
Das 'normale' Komponieren geht von 7 Tönen aus, die zusammen eine Tonleiter bilden. Der erste und zentrale Ton dieser Leiter heisst der Grundton. Alle anderen Töne sind auf diesen Grundton bezogen, bewegen sich also gleichsam auf ihn zu. Die Folge ist, dass der Zuhörer die Erfahrung hat, dass ein Musikstück 'stimmt'. Bei der 12-Tonmethode gibt es keine zentrale (Grund)tonalität, und ist also keine Bewegung zum Grundton möglich. Die Folge ist, dass für manchen Zuhörer die Musik 'nicht stimmt', nicht harmonisch und nicht zugänglich ist. 

PAUL VON KLENAU: "Meine Zwölftontheorie nenne ich die Tonartbestimmte Zwölftontheorie. Ich richte meine Zwölftonreihen so ein, dass ich aus ihnen Harmonie (!), Disharmonie und tonartbestimmt wirkende Polyphonien zwanglos ableiten kann ... Daraus erklärt sich die Tatsache, dass viele Kritiker gar nicht bemerkt haben, dass meine Musik Zwölftonmusik ist".

Über Von Klenau:
Der in Dänemark geborene Dirigent und Komponist Paul von Klenau fühlte sich von spätromantischen deutsch-österreichischen Musikströmungen angezogen.

Er zog nach Wien, lernte Arnold Schönberg und Alban Berg kennen und wurde von ihrer Zwölftonmusik berührt. Als die Nazis an die Macht kamen, reiste Schönberg kehrte Österreich den Rücken und liess sich als amerikanischer Staatsbürger einbürgern. In Österreich und Deutschland wurden seine Musik und die von Alban Berg als "entartet" eingestuft und deshalb verboten.

Der Däne Von Klenau fühlte sich sicher, weil seine Zwölftonmusik kaum als solche erkennbar war.
Capriccio Kulturforum (2020): "Als er dennoch von den nationalsozialistischen Kulturbehörden zur Rede gestellt wurde, behauptete Von Klenau daher, die Reihe sei die musikalische Entsprechung des Führungsprinzips: Alles ist einer einzigen Grundidee unterworfen".
Die Behörden akzeptierten Klenaus Erklärung und erlaubten die Uraufführung von drei seiner Opern in den Dreissigern, darunter die Oper 'Rembrandt van Rijn' von 1937.

Uraufführung 'Rembrandt van Rijn'-
(Stuttgart 1937). Mit Rembrandt, seiner Frau Hendrickje,
Cornelia (links) und Cornelis (rechts)
Über die Aufnahme:
Rudolf Schock nahm am 3. April 1978 die Arie von Cornelis* auf.
Das Liebeslied stammt aus der 2. Szene des 2. Aktes der Oper.
Im Video habe ich ein Bühnenbild-Anzeige von Paul von Klenau für diese Szene erwähnt und befolgt. Er wünschte sich in der Szene das Gemälde 'Die Mühle' von Rembrandt als Hintergrund auf der Bühne.

Schocks Stimme ist in einem ziemlich halligen Klangrahmen enthalten. Dadurch wirkt die Stimme eigentlich zu groß.
Ein einziges Mal muss er auch einer höheren Note einen zusätzlichen Schub geben.
Die Ausführung ist aber ausdrucksstark. Je mehr man die Arie hört, desto schöner wird sie.
Sie klingt übrigens harmonisch (!) und das passt genau zu dem, was Von Klenau oben über die eigene Zwölftonmusik gesagt hat.

* 'Cornelis' hat wirklich gelebt: Der Maler Cornelis Suythof heiratete 1670 im Alter von 24 Jahren die 16-jährige Cornelia van Rijn und wurde damit Rembrandts Schwiegersohn.
Später wanderte er mit seiner Frau nach Niederländisch-Ostindien aus.
Cornelia und Cornelis starben 1684 bzw. 1691 in Batavia - heute Jakarta.

>'Die Uhr', Opus 123-Nr. 3, Lied (1852) von Carl Loewe (1796-1869) zu einem Gedicht von Johann Gabriel Seidl (1804-1875):















"Ich hätte auch gerne eine solche Uhr!"
soll ein kleiner Junge aus dem Publikum begeistert ausgerufen haben, nachdem Tenor Carl Loewe das eigene Lied "Die Uhr" gesungen hatte.
Ein weises Lied, das Rudolf Schock 1964 mit Orchester und 1980 mit Klavierbegleitung von Ivan Eröd auf der Schallplatte sang.

Der Gedichttext stammt von Johann Gabriel Seidl, von dem Franz Schubert auch eine Reihe von Gedichten vertonte (darunter "Der Wanderer an den Mond", "Sehnsucht" und "Die Taubenpost").

"Die Uhr" geht über die Lernreise eines Menschen durch die Zeit, die durch ein Uhrwerk in Form einer Westentaschenuhr symbolisiert wird. Ein Mensch, der das Leben einmal dankbar angenommen hat und es, nachdem er es gelebt hat, genauso dankbar wieder in die Hände seines Schöpfers legt.
Ein "Lied des Lebens", das in seiner Einfachheit absolut aufrichtig ist. Von bleibendem Wert. Nicht sentimental, sondern grundehrlich.

Schocks Auftritt 1964 mit Orchester unter Werner Eisbrenner dauert fast eine Minute länger als die aus dem Jahre 1980. Überlegen gesungen. Ist aber ausgedehnter und bekommt durch ein paar Falsett-Momente doch noch einen Hauch von Sentimentalität.

Die Aufführung von 1980, die Ivan Eröd (1936-2019) hervorragend am Klavier begleitet, klingt anders.
Einfacher, direkter.
Alter und Lebenserfahrung singen mit.
Der Sänger identifiziert sich mit dem sterblichen Besitzer der Uhr.
Die Stimme ist sicherlich nicht mehr so ​​wie 1964. Aber die Darstellung übertrifft sie.

> 'Tom der Reimer' Opus 135a von Carl Loewe. Der Text ist von Theodor Fontane. Ivan Eröd begleitet Rudolf Schock am Klavier. Es ist Schocks letzte bedeutende Tonaufnahme.



Krijn de Lege, 21.4.2020

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