12.10.09

RUDOLF SCHOCK SINGT PETER CORNELIUS

Heinrich Pflanzl und Rudolf Schock (1951)


KRANK VOR LIEBE!

So fühlt Nureddin sich. Um ihn dreht alles in Peter Cornelius' komische Oper 'Der Barbier von Bagdad' (1858).

Rudolf Schock unterstreicht in seiner Biographie die "unvergesslich entzückende" Berliner Premiere dieser Oper im Jahre 1951. Auf der letzten, autobiographisch gefärbten Opern-LP ('Für meine Freunde' 1978) erinnert er - nicht zufällig - auch an die Cornelius-Arie 'Ach, das Leid hab' ich getragen'. Schock muss die Nureddin-Rolle ausserordentlich gern gesungen haben. Eine verpasste Chance, dass Electrola in den frühen Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts nicht die vollständige 'Barbier von Bagdad' mit dem jungen Rudolf Schock aufgenommen hat. Wohl erscheint Ende 1961 bei Electrola/Emi eine Ausführung von Nureddins Arie: 'Vor deinem Fenster die Blumen'. Der 70-jährige Rudolf Schock erlebt 1985 noch, dass Acanta zwei einzelne, für den Rundfunk aufgenommene Fragmente auf LP veröffentlicht. Drei (!) vollständige Rundfunk-Übertragungen aus den Jahren 1951, 1952 und 1957 bleiben aber hinter Schloss und Riegel in den Rundfunk-Archiven. Und sogar das nicht ganz, denn von der 1951-Aufnahme wurde eigentlich angenommen, sie sei gewischt worden.

Erst im Laufe der neunziger Jahre wird auf CD die 1952-Ausführung veröffentlicht und 2002 - überraschend! - die verloren geglaubte Aufnahme aus dem Jahre 1951. Wie begeistert ich auch über die eine Electrola/Emi-Aufnahme aus dem Jahre 1961 war, erst echt glücklich machten mich diese neuen, alten 'Barbiere': Sie liefern den Beweis dafür, dass der wahnsinnig verliebte Nureddin eine vergessene Glanzrolle von Rudolf Schock ist.

Drei Weihnachtslieder von PETER CORNELIUS
nimmt Rudolf Schock 1964 auf. Sie standen/stehen auf Schocks LP/CD mit Weihnachtsliedern aus demselben Jahr und sind heute mehr als ein halbes Jahrhundert unabgebrochen erhältlich.



PETER CORNELIUS
(Mainz 1824 - Mainz 1874)
Vater Karl Cornelius war Schauspieler, Onkel Peter von Cornelius ein geschätzter Maler. Peter Cornelius will auch auf die Bühne. Aber wenn der Vater stirbt, und der 20-jährige Peter in die Wohnung des berühmten Onkels zieht, stellt er die Weichen anders und beginnt ein Musikstudium. Er wird Musiklehrer, arbeitet als Musikrezensent für verschiedene Zeitschriften und begegnet Franz Liszt (1811-1886), dem renommierten Pianisten, Komponisten und Dirigenten. Zugleich wächst - wie bei Anton Bruckner - auch bei Cornelius eine tiefe Bewunderung für Wagner. Im Jahre 1856 komponiert Peter Cornelius einen 'Weihnachtslieder-Zyklus' (Opus 8) mit eigenen Texten. Die sechs Lieder (drei davon singt also Rudolf Schock auf CD) finden weit und breit Anerkennung. Dann wird am 15. Dezember 1858 in Weimar Cornelius' Oper 'Der Barbier von Bagdad' zum ersten Male aufgeführt, aber Reiz und Humor von Peter Cornelius' Melodien und Texte verlieren sich im Tumult um den Dirigenten der Premiere: Franz Liszt. Dieser liegt schon längere Zeit mit dem Theaterdramaturgen im Clinch, und ausgerechnet die Premiere des 'Barbiers' wird von Anhängern aus beiden Lagern ausgenutzt, um die unterschiedlichen Ansichten auf Kosten des armen Peter Cornelius auszutragen. Franz Liszt tritt nach diesem Abend nicht mehr in Weimar auf, und Peter Cornelius zieht seinen 'Barbier' erschüttert zurück, legt ihn in irgendeinen Schrank oder - im Geiste der 'Barbier'-Handlung - in eine Truhe und kümmert sich nicht mehr um ihn. Er muss der Meinung gewesen sein, der Skandal wäre (auch?) den Qualitäten seiner Oper zuzuschreiben.

Fast anderthalbes Jahrhundert später urteilt mancher Opernliebhaber, der 'Barbier von Bagdad' sei ein "vergessenes Meisterwerk" (Riemens). Auch ist das Vorurteil längst überholt, Wagner-Fan Peter Cornelius habe sich beim Komponieren seiner Theater-Produktion vom deutschen Operngiganten weitgehend beeinflussen lassen. Cornelius hält eine angemessene Distanz, findet den eigenen, musikalischen Weg und scheint Wagner in der Figur des Barbiers Abul Hassan sogar zu persiflieren.

Cornelius siedelt nach Wien über und komponiert doch noch eine zweite Oper ('Der Cid' ), die wohlgemerkt in Weimar und überdies mit Erfolg Premiere hat. Für Solostimme und/oder Chor schreibt er eine Anzahl von Liedern, worunter 1863 auf Text vom Bühnenautor und Dichter Friedrich Hebbel das schöne 'Requiem: Seele, vergiss sie nicht'. Hebbel war nämlich 1863 gerade gestorben. Zwei Jahre später empfängt ein sehr verehrter Peter Cornelius die Einladung Richard Wagners, nach München abzureisen. Dort ernennt man Cornelius zum 'Professor für Rhetorik und Harmonielehre' an der Königlichen Bayrischen Musikhochschule. Am 26. Oktober 1874 - noch keine 50 Jahre alt - stirbt Peter Cornelius in derselben Stadt, wo sein kurzes Leben 1824 angefangen hatte. In einigen Opern-Nachschlagewerken kommt Cornelius nicht einmal vor. Es sieht manchmal danach aus, als ob eben bescheidene Menschen sich mit einer Stelle am Rande begnügen müssen. Aber immer gibt es wieder Musik-Interessenten, die gerade diesen Rand aufsuchen und da Reichtümer entdecken.

'Der Barbier von Bagdad'
ist eine deutsche 'Opéra comique' (siehe auch die Aufsätze 'RS singt Adam, Auber und Bizet' ). Mozarts 'Die Entführung aus dem Serail' (1782) und Carl Maria von Webers 'Abu Hassan' (1811) müssen Inspirationsquellen für Cornelius gewesen sein. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der 'Barbier' eine komische Oper ist ohne die in dieser Gattung üblichen, gesprochenen Dialoge. Peter Cornelius konzipiert das Werk als eine textuell und musikalisch durchkomponierte Oper, die zunächst nur eine einzige Akte zählt. Franz Liszt ( dem Cornelius den 'Barbier' widmet) rät ihm, zwei Akten daraus zu machen. Auch hilft Liszt bei der Wahl aus den beiden Ouvertüren, die Cornelius für den 'Barbier' schrieb.

Der märchenhafte Inhalt der Oper gründet sich auf eine Erzählung aus '1001 Nacht', und mit der Gestalt des 'autodidaktischen Universal-Genies Abul Hassan Ali Ebn Bekar' scheint Peter Cornelius auf mild-ironische Weise den alles und alle überschattende 'Totalkünstler' Richard Wagner zu relativieren. Die wirkliche Hauptperson ist aber der ungestüme Nureddin, der krank vor Liebe ist. Wenn Nureddin endlich die Gelegenheit bekommt, Margiana zu treffen, will er sich aber noch ein kurzes Moment rasieren lassen. Dieses 'kurze Moment' führt zu einer äusserst frustrierenden, ellenlangen (aber für uns witzigen) Konfrontation mit dem dummes Zeug schwätzenden und sich selbst höchst wichtig machenden Abul Hassan. Abul fährt fort, Nureddin in den Weg zu laufen und taucht sogar als faselnder Störfaktor vor dem Fenster des Zimmers auf, worin Nureddin und Margiana einander gegenseitig ihre Liebe erklären. Alles geht aber natürlich gut aus: Nureddin und Margiana leben noch lange und glücklich, und Abul wird gefangengenommen. Der Kalif verurteilt ihn zum lebenslangen Märchenerzählen an seinem Hofe.

Liszt dirigiert die Erstaufführung, was also ganz schief geht. Cornelius hat den 'Barbier' zum alten Eisen geworfen. Zwei Jahre nach seinem Tode führt man das Werk in Hannover noch einmal auf, aber auch da wird es kein Erfolg. Im Jahre 1882 bringt der Wagner-Dirigent Felix Mottl (1856-1911) die Oper zu einer einzigen Akte zurück. Er arbeitet die Instrumentation im Sinne Wagners um und beabsichtigt während der Premiere, die er selber dirigiert, Cornelius' zweite (D-Dur 6/8-)Ouvertüre einzusetzen. Der Vorteil wäre, dass diese 2. Ouvertüre überdeutlich auf die Musik der Oper selbst präludiert. Die erste (h-Moll 3/4-)Ouvertüre hat musikalisch wenig Verbindung mit der Oper und existiert nur, um das Publikum in gute Stimmung zu versetzen. Am 1. Februar 1884 dirigiert Felix Mottl die Oper in Karlsruhe, und festgestellt kann werden, dass der Cornelius/Mottl-'Barbier' danach in Deutschland zwei Dezennien lang ausgeführt wird. Dann spielt in Weimar die ursprüngliche Cornelius/Liszt-Version wieder eine Rolle trotz der Tatsache, dass Cornelius' Witwe die Originalpartitur "um des Gedenkens ihres Gatten willen" nicht mehr zur Verfügung stellt. Aber mit den Orchesterstimmen der ursprünglichen Ausführung wird die erste Partitur rekonstruiert, wonach diese am 10. Juni 1904 zum 2. Male in Weimar Premiere hat. Ich habe den Eindruck, dass die Oper darauf dann und wann in beiden Versionen gespielt wird. Die Berliner Staatsoper verzeichnet mit dem 'Barbier von Bagdad' 1922 auf einmal einen Publikumserfolg, und sie macht das mit der leichtfüssigeren, originellen Cornelius/Liszt-Version. Danach gerät der 'Barbier' aber wiederum in den Hintergrund. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bekommt die Oper jedoch eine neue Chance: Ende 1949 wird das Werk - zusammen mit Puccinis 'Gianni Schichi' - an der Wiener Staatsoper zehnmal neu aufgeführt. Otto Edelmann ist Abul, Anton Dermota und Julius Patzak singen abwechselnd Nureddin, und Sena Jurinac ist Margiana. Der Dirigent ist Otto Ackermann.

Mitte 1951 hat das Werk in Regie von Ernst Legal an der Berliner Staatsoper Premiere. Heinrich Pflanzl, Rudolf Schock und Elfriede Trötschel (siehe Foto) singen die Hauptrollen.
Leopold Ludwig hat die musikalische Leitung und die Vorstellung ist "unvergesslich entzückend" (Schock).

Dann kommt es zu einigen Rundfunk-Sendungen. Darunter eine Sendung aus Köln (Ende 1951 unter Joseph Keilberth) und aus Wien (Ende 1952 unter Heinrich Hollreiser). Schliesslich erscheinen 1957 noch eine Rundfunk-Übertragung aus München unter Hans Gierster und eine erste kommerzielle Studio-Aufnahme unter Erich Leinsdorf auf Columbia (später Emi) mit Oscar Czerwenka, Nicolai Gedda und Elisabeth Schwarzkopf. Mit diesem doppelten Schlussakkord ist es mit der 'Barbier'-Belebung wieder vorbei. Nur im Jahre 1973 veröffentlicht Eurodisc/BMG noch eine zweite kommerzielle (Stereo-)Fassung unter Heinrich Hollreiser mit Adalbert Kraus und Sylvia Geszty. Den Abul Hassan singt der namhafte und von Rudolf Schock entdeckte Bassist Karl Ridderbusch (1932-1997).
KARL RIDDERBUSCH







 

Rudolf Schock singt im 'Barbier von Bagdad'
schon 1936 (Duisburg) und 1939 (Braunschweig), woraus hervorgeht, dass Cornelius' 'Barbier' an kleineren Theatern ab und zu wohl gespielt wurde/wird. Jedenfalls sang Rudolf Schock in den dreissiger Jahren nicht die Rolle des Nureddin. Das hätte er in der Biographie erwähnen lassen. Neben Nureddin gibt es in der Oper noch vier Tenorpartien: Margianas Vater: Baba Mustapha, zwei 'Muezzins' (Moschee-Beamte, die die Gläubigen vom Minarett zum Gebet aufrufen") und einen Sklaven, der geprügelt wird und deshalb nur tenoral zu jammern braucht. Ich vermute, dass Rudolf Schock einen der 'Muezzins' sang, aber dat is wohl ein Schlag ins Wasser.

Interessant ist es, zu bemerken, dass die zentrale Partie des Nureddins früher von 'jugendlichen' und schwereren Heldentenören dargestellt wurde. Das muss für diese oft inflexibleren Stimmen nicht immer einfach gewesen sein. In der Literatur über diese Cornelius-Oper wird häufig die Unbequemlichkeit der Rolle genannt. Der Sänger soll schnell hintereinander von einem Register ins andere 'gleiten' ('passagio'). Die Tonhöhe schiesst von niedrig nach hoch, von Brust- nach Kopfstimme und umgekehrt. Es ist wahrscheinlich darum, dass die Rolle später besonders von Sängern gesungen wird, die sowohl die Qualitäten eines 'heldischen', als auch die eines 'lyrischen' Tenors besitzen. U.a. der junge Rudolf Schock verfügte im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg über diese Qualitäten, und es ist deshalb logisch, dass er schon bald als ein geeigneter Sänger für die Nureddin-Rolle betrachtet wurde.

- Berlin, 22.5.1947: 1. Szene 1. Akt (Nureddin/Diener): 'Sanfter Schlummer wiegt ihn ein' mit dem RIAS-Kammerchor und dem RIAS-Symphonieorchester. Dir. WALTER SIEBER (Auf CDs von Acanta, Delta, Laserlight usw. Auch als Bonus bei der Gesamtausführung des 'Barbiers' auf Gebhardt JGCD 0048-2).

Der RIAS-Kammerchor und das RIAS-Symphonieorchester wurden mit finanzieller Hilfe der Amerikaner am 16. November 1946 gegründet und hatten ihren Standort im amerikanischen Sektor von Berlin. Ein kleines Jahr wurde tüchtig an der Auswahl von Chorsängern und Musiker gearbeitet, und es gab die entsprechenden Proben. Das erste Konzert fand zu Anfang der Saison 1947/1948 im Titaniapalast statt. Der Dirigent war Walter Sieber. Schock früheste Nureddin-Aufnahme stammt also aus der Periode zwischen Chor- und Orchester-Gründung und dem ersten Konzert und wird 1985 zum ersten Mal auf LP veröffentlicht. Inzwischen kommt sie auf vielen CDs mit Schock-Opernrecitals vor. Der Dienerchor, der den liebeskranken Nureddin in den Schlaf singt, klingt ziemlich dumpf, aber Schocks schmachtende Stimme ist wie Samt. Ich erfuhr 1985 diese betont träumerische Aufnahme als eine Sensation.

- Hamburg, 22.3.1951: Duett Nureddin-Margiana 2. Akt: 'O holdes Bild in Engelschöne' mit Lore Hoffmann (Margiana) und dem Hamburger Rundfunkorchester. Dir. WALTER MARTIN (Auf Schock-Opernrecital-CDs von Acanta, Delta, Relief usw. Auch als Bonus bei der Gesamtaufnahme auf Gebhardt JGCD 0048-2).

Das Liebesduett aus dem 2. Akt bildet das Herz einer längeren Szene mit den 'Muezzins' und Abul Hassan-vor-dem-Fenster. Die Melodie ist prachtvoll und sollte eigentlich ein Opernhit sein. Die Ausführung von Schock und Hoffmann beschwört einzig und allein Entzückung herauf. Leo Riemens vermutet in seinem 'Grossen Opernbuch' (Elsevier 1959), Peter Cornelius habe dieses Duett als Parodie auf das grossartige Liebesduett von Tristan und Isolde aus Wagners gleichnamiger Oper gestaltet. Riemens sieht sogar Textähnlichkeiten. Riemens' Vermutung kann nicht richtig sein: Cornelius' Oper hatte 1858 Premiere, Wagners 'Tristan und Isolde' 1865. Es könnte also umgekehrt gewesen sein: der grosse Wagner lässt sich vom kleinen Cornelius inspirieren (Sie brauchen das aber nicht zu glauben!).


Die lyrische Sopranistin Lore Hoffmann (1911-1996) sang vor allem an den Berliner und Hamburger Operntheatern (u.a. viele Mozartpartien, Eva in Wagners 'Meistersinger von Nürnberg', Mimi in Puccinis 'La Bohème') und war als Konzertsängerin aktiv. Zusammen mit Rudolf Schock singt sie daneben Operette in einer auch auf CD erhältlichen vollständigen Rundfunk-Aufnahme (1951) des 'Grafen von Luxemburg' von Franz Lehár. Es ist unverständlich, dass man diese "soprano with a voice of te purest quality" (A.R.-Gramophone) heute nahezu vergessen hat. Sie könnte ohne weiteres der illustren Reihe: Schwarzkopf, Della Casa, Jurinac, Grümmer zugefügt werden.


- Köln, 19.12.1951: Gesamtausführung im Rundfunk: ' Der Barbier von Bagdad'. Dir. JOSEPH KEILBERTH - Gebhardt Records JGDC 0048-2 (extra: die obenerwähnten, einzelnen Fragmente aus dem 'Barbier' + das 1. Finale aus Albert Lortzings 'Zar und Zimmermann' unter Walter Martin mit Margot Guillaume, Rudolf Schock und Horst Günther).












Rudolf Schock ist der Star dieser Aufnahme. Er singt den jungen Nureddin mit überwältigender Übergabe. Nureddin gerät durch Abul Hassans nicht ablassenden Redestrom hoffnungslos frustriert, und der Solist Rudolf Schock verschwindet magistral in dem Hitzkopf, den er darstellt.
















Kurt Böhme (1908-1989) spielt den Abul Hassan mit unerschütterlicher Gleichmut und er hat recht: Cornelius hat Abul musikalisch und textuell alles mitgegeben, um Nureddin zu imponieren, zu dominieren und den Zuhörer zu amüsieren. Übertreibung würde der Darstellung nur schaden.

Anny Schlemm (1929, im Moment der Aufnahme also nur 22 Jahre alt) ist für Nureddin das ideale Liebesobjekt. Sängerin und Mädchenrolle fallen perfekt zusammen. Margiana ist - in dieser Ausführung - so jung, wie nur möglich ist, und das ist für das Bühnenbild (denn unter dem Zuhören SIEHT man die Handlung vor sich) ein grosses Vorteil. Ausserdem klingt Schlemm's Stimme wärmer als in späteren Partien. In den Siebzigern sollte Anny Schlemm zu einer formidabelen 'Charaktersängerin' von Rollen wie Klytämnestra in 'Elektra' und Herodias in 'Salomé' (beide Opern von Richard Strauss) heranwachsen.

Der stimmungsvolle Gesang der drei 'Muezzins' vorab und das sich entfaltende Terzett mit Abul danach lassen die Schönheit des Duetts Nureddin-Margiana (2. Akt) noch besser zur Geltung kommen als die an sich so schöne, kürzere Aufnahme vom 22. März realisieren kann. Vielleicht hat das aber auch etwas mit Joseph Keilberths Stabführung zu tun. Joseph Keilberth (1908-1968) legt ein auffallend zügisches Tempo vor (die Rolle des Nureddin wird dadurch vokaltechnisch noch schwieriger). Die Anfangsszene Nureddin/Diener dauert noch keine fünf Minuten und ist dadurch bei weitem nicht so träumerisch wie bei Sieber 1947, die fast sieben Minuten braucht. Wenn die Opernhandlung aber ihren weiteren Lauf nimmt, erfährt man eine dynamische Vorstellung, die gleichsam durch die fieberhafte Geisteshaltung des ungeduldigen Nureddin vorwärts getrieben wird. Und in dem Augenblick, als Schock und Schlemm im zweiten Akt das hinreissende Liebesduett anstimmen, sieht man auf einmal ein, dass Keilberths Dirigierauffassung eine richtige ist.

Diese Ausführung ist die ursprüngliche Version von Cornelius/Liszt. Also inklusive der ersten h-Moll-Ouvertüre. Ich habe keine einigermassen bedeutenden Kürzungen entdecken können, so dass dieser 'Barbier von Bagdad' das Prädikat 'vollständig' echt verdient. Technisch muss die Qualität des - je verloren geglaubten - Quellenmaterial beschränkt gewesen sein. Das erreichte Tonresultat ist aber durchaus akzeptabel. Bei all diesem Schönen nehme ich einen etwas trockenen Klang und ein paar Nebengeräusche gerne mit in Kauf.

- Wien, 5.12.1952: Gesamtausführung im Rundfunk: 'Der Barbier von Bagdad'. Dir. HEINRICH HOLLREISER - Verona 27050/51 und Preiser Records 20035 (extra bei Preiser Records: Gottlob Frick singt unter Willelm Schüchter Opernarien von Mozart, Nicola, Lortzing und Verdi).






















Das italienische Verona-Label fokussierte mit dem CD-Cover 1992 auf Rudolf Schock.
Preiser Records 2004 auf Gottlob Frick, der mit schönem Portraitfoto (Fayer) und als Bonus sieben glänzend gesungenen Opernarien aus dem Emi-Repertoire in Erinnerung gebracht wird.

Als Aufnahmedatum nennt Preiser Oktober 1952. In Schocks Biographie steht der 5. Dezember 1951.




















Gottlob Frick (1906-1994), der Sänger mit vielleicht wohl der allerschönsten, 'schwarzen' Bass-Stimme des 20. Jahrhunderts, ist als der Barbier für Nureddin ein riesiges Hindernis, das nahezu nicht zu überwinden ist. Abuls Erscheinen nach Nureddins emotioneller Arie 'Ach, das Leid hab' ich getragen, Wie ertrag' ich nun mein Glück?' hat eine sakrale Dimension. Abuls verworrenes Gerede ist vokal von eindrucksvoller Pracht. Ein einziger Kritiker achtet Gottlob Frick zu seriös in der Rolle, aber Cornelius' Humor kommt gerade im krassen Gegensatz von heiligem Ernst und verbalem Nonsens zur Geltung (dabei denke ich an ähnlich komische Kontraste in vielen Lustspielen von Molière, worin übermächtige Ärzte, Juristen, Physiker und Philosophen in nie enden wollenden Monologen ihre angeblichen Sachkenntnisse verzapfen.


Joseph Keilberths Dirigierauffassung hielt ich für eine richtige, aber die von Heinrich Hollreiser (1913-2006) ist bestimmt auch nicht zu verschmähen. Bei Hollreiser ist alles üppiger und seriöser, wodurch seine Auffassung nach dem Vorbild des 'Hohepriesters' Abul Hassan noch einmal extra zum humoristischen Gegensatz von Form und (textuellem) Inhalt beiträgt. Hollreisers Tempi sind ein wenig langsamer als die von Keilberth (Nureddins Öffnung des ersten Aktes dauert hier gut fünfeinhalb Minuten), aber gibt den Solisten Gelegenheit, den vollen Luxus ihrer Stimmen zur Schau zu tragen: Rudolf Schock erweist sich dann als zu einer noch grösseren Virtuosität imstande und büsst dabei nicht an Leidenschaft ein. Roger Pines ('The Opera Quarterly' 2004) lobt "his sheer abandon of the singing" und ergänzt: "Schock navigates superbly through the 'passagio' (siehe oben-kdl), an essential skill in singing Nureddin, which not even Wunderlich could have matched". Schock geht mit Leib und Seele in Nureddin auf. Die introvertierte Wiederholung des Flehens 'Mache mein Herz gesund' nach der Klimax der Arie 'Vor deinem Fenster die Blumen' bewegt mich immer aufs neue. Neben Frick und Schock ist in der Rolle von Margiana Sena Jurinac (1921) die dritte, luxuriöse Stimme, die zur musikalischen Interpretation des Dirigenten passt. Dies gilt genauso für die wohllautende Altstimme von Hilde Röss(e)l-Majdan (auch 1921) als Bostana. Ihr Duett mit Nureddin, worin ein kluger Plan geschmiedet wird ('Wenn zum Gebet vom Minarett'), ist die zigste Perle dieser Oper. Plötzlich entscheidet sich Hollreiser für ein höheres Tempo als Keilberth. Dadurch entrollt der gesungene Dialog in einer perfekt gemixten Atmosphäre von Gespanntheit und Aufregung. Unter den übrigen - vortrefflichen - Solisten der Aufnahme ist als einer der 'Muezzins' der 23-jährige Walter Berry (1929-2000) zu hören.

Musikmagazin 'Fanfare' setzt 1992 die Aufnahme "ganz vorn" und empfiehlt sie ohne Einschränkung. Auf der Website der Wiener Staatsoper bespricht 'pb' Peter Cornelius' 'Barbier von Bagdad unter der Headline "Reizvolle Wiederentdeckung": "...diese Wiener Rundfunkaufnahme besticht schon allein durch die Wortdeutlichkeit der Sänger...höchst luxuriöse Besetzung: Rudolf Schock mit leidenschaftlicher Emphase, Sena Jurinac...herrlich leuchtende Stimme, Gottlob Frick...dank seines funkelnden Basses eine Klasse für sich. Heinrich Hollreiser bringt am Pult die Perlen dieser feinen Partitur zum Glitzern...".

Auch diese Ausführung hält sich an der ursprünglichen Cornelius/Liszt-Version mit der - im Vergleich zur Keilberth-Aufnahme auffallend mild einsetzende - ersten Ouvertüre. Gut zehn Minuten sind gestrichen worden, die bei Keilberth also wohl zu hören sind. Die Hinzufügung einiger Bühnengeräusche wirkt gut, die Hinzufügung einiger, (verdeutlichender), kleiner Sätze nicht. Die Aufnahme von Preiser ist räumlicher als die von Verona, aber klingt ein wenig 'unterdrückt'. Im grossen und ganzen bewähren sich beide Kopien gut.

- München, 18.9.1957; Gesamtausführung im Rundfunk: 'Der Barbier von Bagdad'. HANS GIERSTER dirigiert Chor und Orchester des Bayrischen Rundfunk (Original-Tonband muss sich im Archiv des Bayrischen Rundfunk befinden. Befriedigendend ist eine Kopie, die neulich vom Hamburger Archiv für Gesangskunst veröffentlicht wurde. Die Nummer lautet: 30383.

Musikhistorisch gab es schon ausreichende Gründe, eine professionelle Ausgabe der ursprünglichen, - zweifelsohne tadellosen - Tonbänder zu verwirklichen. Es sieht nämlich so aus, als käme diese Aufführung aus Wagnerstadt München ordentlich in die Nähe der noch nur selten gespielten Felix Mottl-Bearbeitung aus dem Jahre 1882 (siehe oben).

















Hans Gierster dirigiert die zweite Cornelius-Ouvertüre, die Mottl an den 'Barbier'-Anfang seiner neu überarbeiteten, kürzeren Version setzte. Bei Gierster rasiert der 'Barbier' eine halbe Stunde (!) kürzer als unter Keilberth. Besonders im zweiten Teil der Oper hat man (Mottl?) tüchtig geschnitten. Die Intrumentation wurde von Felix Mottl über einen 'wagnerianischen' Leisten geschlagen. Die Gierster-Aufnahme, die ein ungefähr ebenso rasches Tempo wie Keilberth einhält, mutet dessenungeachtet schwerer an und hat nicht das Leichte und Naive der 1858-Version. Das bewegende, wiederholte Flehen Nureddins 'Mache mein Herz gesund' am Ende der Arie 'Vor deinem Fenster...' wird denn auch überschlagen.


Was wir wohl hören, ist eine meh oder weniger andersartige Interpretation der Oper, deren Solisten grosse Klasse haben: Dorothea Siebert (1921), die wie Lore Hoffmann aus undeutlichen Gründen in die Vergessenheit zu geraten droht, singt eine hervorragende Margiana, Rudolf Schock, in bester Harmonie mit den teils geänderten Umständen dieses 'Barbiers', einen überwiegend 'heldischen' Nureddin. Dieser Nureddin ist der Naivität vorbei. Abul Hassan hat alle Hände voll zu tun mit ihm, und das bringt Kurt Böhme dazu - mehr als 1951 - deutlicher aus seinem komischen Reservoir zu schöpfen. Aber auch jetzt geht er darin nicht zu weit. Weiterhin hören wir als sympathischen Kalifen den bewundernswürdigen Heldenbariton Marcel Cordes (1920-1992), den schönen, leichten lyrischen Tenor Kurt Wehofschitz als Margianas Vater und drei 'Muezzins', die auch jetzt ihre kleine, aber dankbare Partie vorbildlich singen.





Über den Dirigenten Hans Gierster (1925) ist im Internet die Information spärlich. Seinen Namen liest man oft, aber nähere Angaben und/oder ein Foto sind schwierig zu finden. Schock-Spezialist Ludwig Stumpff half mir aber aus der Klemme und sandte mit ein Portraitfoto des Dirigenten, die Sie nebenbei vorfinden. Hans Gierster war 1964-1988 in Nürnberg ein aktiver und erfolgreicher Opern- und Konzertdirigent. Er unterschied sich besonders durch die Aufmerksamkeit, die er zahlreichen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts widmete. Es muss für Gierster verlockend gewesen sein, dem Rundfunkpublikum gerade die weniger bekannte Version des 'Barbiers von Bagdad' zu präsentieren. Im Jahre 1973 dirigierte er für das Eurodisc-Label Rudolf Schock in einem grossen Opernquerschnitt aus Wilhelm Kienzl's 'Evangelimann'.

Zwei spätere, kommerzielle Studio-Aufnahmen:

Am 11. Dezember 1961 singt Rudolf Schock unter dem Dirigenten Horst Stein Nureddins Arie (in 1. Fassung) 'Vor deinem Fenster die Blumen'. Die Arie ist zu finden unter dem Titel 'Rudolf Schock-Portrait'(Kassette mit 3 CDs: Emi-CZS 767183 2). Die (Stereo-)Aufnahme ist brillant, und Schocks Darstellung auch.

Am 3. April 1978 singt Rudolf Schock unter dem Dirigenten Fried Walter Nureddin's Arie 'Ach, das Leid hab' ich getragen'. Sie steht auf Schocks letzter Opern-LP 'Für meine Freunde'. Sie gehört zu diesem Recital, weil der Sänger da unter mehr an frühere, musikalische Glanzrollen erinnert.

Rudolf Schock singt Weihnachtslieder von Peter Cornelius u.a.



Februar/März 1964 nimmt Rudolf Schock für Eurodisc/BMG neun bekannte Weihnachtslieder auf. Auf der LP, die erscheint, werden sie u.a. um drei Weihnachtslieder von Cornelius und das 'Mariä Wiegenlied' von Max Reger ergänzt (am Klavier in den Cornelius-Liedern: Ivan Eröd).
Der erfahrene Chorleiter Günther Arndt (1907-1976) dirigiert Schock, den RIAS-Kammerchor/-Kinderchor und den Berliner Symphoniker in den anderen Weihnachtsliedern. Die LP ist gewissenhaft und mit nicht nur auf der Hand liegenden Kompositionen zusammengestellt. Die traditionellen Lieder, worin Chöre und Solist bald zusammen, bald einzeln zu hören sind, werden in einem zurückhaltenden, aber wirksamen Arrangement von Werner Eisbrenner (1908-1981) gelungen miteinander verbunden. Die Glocken der Berliner Grunewaldkirche und der Dome in Minden und Salzburg umrahmen sie. Am Ende des Programms wünscht Rudolf Schock seinen Zuhörern ein fröhliches Weihnachtsfest. Diese LP-Veröffentlichung stammt aus der Periode, dass Rudolf Schock (damals fast 50 jahre alt) sich auf dem Gipfel seiner Popularität befindet. Die grossen Opernjahre liegen dann zwar hinter ihm, aber die grossen Fernseh-Jahre haben inzwischen angefangen.




















Im Jahre 1987 kommt die CD-Version auf den Markt (anno 2009 unter dem Label Eurodisc-Sony-Music zu erhalten). Schockverehrer sind enttäuscht, wenn sich herausstellt, dass der Weihnachtswunsch gelöscht worden ist. Die alten, ineinander überfliessenden Weihnachtslieder hat man zu einzelnen Tracks zurückgeschnitten, wodurch der integrale Chorkonzert-Charakter grossenteils verloren ging. Auch die Glocken läuteten auf der CD nicht mehr, obschon sie auf der Rückseite der CD-Hülle wohl angekündigt werden. Das Wichtigste ist und bleibt aber die festliche Musik, die von Schock und den anderen Mitwirkenden eindringlich und ohne Zugeständnisse an den guten Geschmack ausgeführt wird. Ich komme in die Versuchung hier auf die Interpretation des wohl bekanntesten Weihnachtsliedes 'Stille Nacht' einzugehen. Aber das ist nicht von Peter Cornelius.

Rudolf Schock singt drei von den insgesamt sechs Liedern, die Cornelius' 'Weihnachts-Zyklus'-(Opus 8) zählt. Ivan Eröd (1936) ist der ausgezeichnete Begleiter am Klavier. Schock singt die Lieder 1, 3 und 6: 'Christbaum', 'Die Könige' und 'Christkind' und macht das mit Wärme und Einfühlungsvermögen.



















Die Lieder zeugen von Cornelius' einfachem und aufrichtigem Gottesglauben, der wie selbstverständlich in der warmen Geborgenheit des Familienkreises eine greifbare Form annimmt: Die Mutter, (wahrscheinlich auch) der Vater und die Kinder oder wir, Menschenkinder, sitzen um die 'goldne(n) Lichter am Weihnachtsbaum'. Wir können 'dem Christkind' nicht wie die 'Könige aus dem Morgenland' 'Weihrauch, Myrrhen und Gold spenden'. So reich sind wir nicht. Aber was wir Ihm wohl spenden können, ist unser Herz. Das Lied 'Die Könige' endet denn auch mit einer doppelten Einladung: zuerst wird das Lied mit 'Schenke dein Herz dem Knäblein hold' abgeschlossen, aber dann folgt - Schock in 'mezza voce' - noch einmal ein drängendes: 'Schenk' Ihm dein Herz...'. Peter Cornelius erreicht damit dieselbe Bewegtheit wie bei Nureddins 'Mache mein Herz gesund'. Wegen solcher Momente schon suche ich den bescheidenen Peter Cornelius gerne am Rande auf und promoviere ihn da zu einem meiner GROSSEN, 'kleinen' Komponisten.

Krijn de Lege, 10.11.2009/29.12.2016

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