05.11.07

OPERN- UND LIEDERSÄNGER RUDOLF SCHOCK SINGT PAUL ABRAHAM




DER KOMPONIST PAUL ABRAHAM (1892-1960)
Ein Mann mit (zu) vielen Eigenschaften. Mensch voller Widersprüche. Rechthaberisch und zweifelnd. Lässig und übertrieben genau. Überschwenglicher Phantast und Hypochonder.
Aber über alles ein gewaltig musikdramatisches Talent. Erneuerer der deutschsprachigen Operette: importiert amerikanische Tanzrhythmen u.a. aus der Jazzwelt, funkelnagelneue Harmonien für Klavier, Saxophon, Gitarre/Banjo und ('gestopfte') Trompeten, introduziert Hammond- und Lichtorgeln, massenhafte Summchöre in luxuriösen Bühnendekorationen. Das Revue-Theater ist geboren, und die Schlager-Operette beginnt den Triumphzug.

1930 ist 'Viktoria und ihr Husar' (qua Plot noch in der Nähe des späten Lehár und qua Musik noch an Kálmán verwandt) eine Weltsensation. Die Operette spielt sich gegen die verschiedenartigsten, atemberaubenden Dekorationen von Siberien, Japan, Russland und Ungarn ab.
1931 wird dieser Erfolg von der exotischen 'Blume von Hawaii' noch übertroffen.

Die Operetten stecken voller, zugänglicher Melodien (viel Blues, Charleston, Foxtrot und English-Waltz). Die Ensembles (von den Stmmungs-Chören abgesehen) beschränken sich auf Solos und Duette. Viele Musiknummern sind, was den Inhalt betrifft, so allgemein, dass Dirigenten/Regisseure ziemlich willkürlich an die Arbeit gehen können: bald dieses Lied in diesen Akt, bald jenes Lied nicht in die Mitte, sondern ans Ende eines Aufzugs rückend.
1932 ist Abrahams 'Ball im Savoy' ein dritter Hit, aber die Handlung, die sich in Paris, Venedig und besonders in einem snobistischen Hotel in der Luxusstadt Nice entwickelt, erreicht das hohe Niveau der beiden vorigen Operetten nicht ganz, und ist allmählich in den Hintergrund geraten.

Die Nazis kommen 1933 an die Macht und der Komponist jüdischer Abkunft, dessen Musik auf einmal als 'Niggermusik' betrachtet wird, muss Hals über Kopf auswandern. Er lässt zu Hause etwa 200 Kompositionen zurück, die dann spurlos verschwinden (und vielleicht unter anderen Namen später nachträglich veröffentlicht worden sind). Von Wien zieht er nach Budapest, dann nach London, Paris und Kuba. Die Flucht endet in New York. Versuche, das musikalische Handwerk in den VS wieder aufzunehmen, scheitern. Eines Tages dirigiert ein verwirrter Paul Abraham ein unsichtbares Orchester auf Madison Avenue, und letzten Endes kehrt er Anfang der 50-er Jahre als Patient mit dem Besen den Schmutz aus den Korridoren einer Nervenanstalt.
Im Laufe dieses Jahrzehnts realisiert man sich in Deutschland mit Verlegenheit, was aus "ihrem" einst weltberühmten Komponisten geworden ist. Eine Aktion wird eingestellt, ihn wieder zurückkehren zu lassen. Im Jahre 1956 bringt man Paul Abraham nach Hamburg, wo er vier Jahre später stirbt.

***********************

PAUL ABRAHAM-AUFNAHMEN MIT RUDOLF SCHOCK:

1955: Rundfunk-Aufnahmen NDR-Hamburg (Arcade/Artone/Membran) mit Valérie Bak, sopr. und Wilhelm Stephan, Dir.
  1. Viktoria und ihr Husar: Duett: 'Reich' mir zum Abschied...'
  2. Blume von Hawaii: Titelsong (Schock)
  3. Blume von Hawaii: 'Du traumschöne Perle der Südsee' (Schock)
  4. Ball im Savoy: Duett: 'Ich hab einen Mann, der mich liebt'
Prachtvolle Aufnahmen mit der Sopranistin Valérie Bak (1919-2005), die einige Jahre davor als Konstanze in der 'Entführung aus dem Serail' und als Königin der Nacht in der 'Zauberflöte' zusammen mit Schock Mozart sang.
All diese Aufnahmen sind auf YouTube zu hören!

Jetzt singen Bak und Schock das berühmte Duett (1) aus 'Viktoria' in klarer Erkenntnis, dass das Verhältnis zwischen Viktoria und ihrem Husaren endgültig beendet werden muss. Nicht übertrieben gefühlvoll, sondern mit kluger Einsicht und Ergebenheit. Ihre gemeinsame Schlussnote klingt überraschend forte.
Wilhelm Stephan (1906-1994), der in diesen Jahren das Hamburger Rundfunkorchester leitete, und im Hamburger Rundfunk genauso wie der bekanntere Kollege Franz Marszalek im Kölner Rundfunk, bis 1958 viel Operette dirigierte, wartet in all diesen Aufnahmen mit grossem (Revue-)Chor und -Orchester auf. Die Theater-Atmosphäre ist auch in 'Blume von Hawaii' ausserordentlich greifbar (2 und 3). Schock singt seine Soli mit schöner Wehmut, heftig von den musikalischen Wogen des Chores und Orchesters umspült. Den Titelsong schliesst der Sänger in hohem Falsett ab, wobei er dem Klang der Hawaii-Gitarren um ihn herum Konkurrenz macht. Das Duett aus 'Ball im Savoy' (4) wird zum Schluss des Programms charmant und mit Spielfreude dargestellt.

1959: Studio-Aufnahmen von 'Viktoria und ihr Husar' und 'Blume von Hawaii' (Emi/Warner) mit Anneliese Rothenberger, sopr., Harry Friedauer, tenor, Liselotte Schmidt, sopr. und Werner Schmidt-Boelcke, dir.

Übrigens ist 'Viktoria und ihr Husar' schon sehr lange unfindbar. Auf der jüngsten Welle von WARNERS Operetten-Wiederveröffentlichungen schwimmt nur die 'Blume von Hawaii' herum.
 
!Via YouTube leitete ich Februar 2016 zwei wohlklingende Fragmente aus der verschwundenen
'Viktoria' an ein breiteres Publikum weiter (siehe oben)!

Anlässlich dieser beiden Fragmente und der 'Blume von Hawaii'-Melodien kann man aber feststellen, dass die Aufnahmen unter dem vielseitigen Dirigenten Werner Schmidt-Boelcke
authentisch anmuten. Es gibt gewiss Paul Abraham-Atmosphäre, trotz der Tatsache, dass man einen beschränkten und merkwürdigen Griff aus den Melodien getan hat: das sympathische Buffopaar Friedauer-Schmidt bekommt nicht soviel zu tun und Schock darf (auf stimmgewaltige Weise) ein halbiertes 'Reich mir...' nahezu im Alleingang singen. Anneliese Rothenberger (1924-2010) dagegen singt (wunderschön, aber zugleich wohl zu ehrfurchtsvoll) das Lied 'Du traumschöne Perle der Südsee' und merkwürdig daran ist, dass sie diese Liebeserklärung an sichselbst, beziehungsweise an Laya. die schöne Prinzessin (Blume) von Hawaii, richtet.

1964: ZDF-TVfilm von 'Viktoria und ihr Husar' mit Margit Schramm, sopr., Johannes Heesters und Wolfgang Ebert, dir./ist seit 2015 - mit Dank an DAHE - zum Glück wieder auf YouTube zu sehen, aber die fortwährende Zeitangabe im Bilde mit den rasend forteilenden Sekunden stört wohl).

Dass es hier die Fernsehverfilmung einer vollständigen Operettenhandlung betrifft, wird aus dem direkteren, mehr dramatischen (= schauspielerischen) Gesangsstil deutlich.
Margit Schramm (1935-1996) war erst 28 Jahre alt, als sie diese Viktoria spielte. Es wird aber sofort deutlich, dass sie eine ausserordentich talentierte Operettensängerin war. Ganz anders als z.B. eine Elisabeth Schwarzkopf, aber bestimmt nicht weniger gut. Schock (damals fast 50) und Schramm entwickelten sich danach zum zentralen Operettenpaar der sechziger Jahre. Dirigent Wolfgang Ebert bleibt weiter als Wilhelm Stephan ein Dezennium davor von Paul Abraham entfernt.

1965: Studio-Aufnahmen von 'Viktoria und ihr Husar' und 'Blume von Hawaii' (Sony/BMG:Eurodisc) mit Margit Schramm, sopr., Ferry Gruber, tenor, Liselotte Ebnet, sopr. und Werner Schmidt-Boelcke, dir.

















Werner Schmidt-Boelcke (1903-1985) ist als Dirigent in den beiden Abraham-Querschnitten wieder aktiv (siehe auch 1959). Die Musik ist von Wolfgang Friebe neu arrangiert worden.
In einem beschränkten Zeitabschnitt von etwa 40 Minuten kommen im Gegensatz zu EMI-1959 fast alle Melodien aus beiden Operetten an die Reihe, aber jede Melodie hat man wohl stark eingekürzt. Das bekannte Duett ('Reich'mir...') dauert hier 1.35. Die Rundfunk-Aufnahme aus 1955 ist gut 4 Minuten länger, wobei Bak und Schock in höherem Tempo singen!
Ein bemerkenswertes Lied wie 'Bin nur ein Jonny'(aus 'Blume von Hawaii') ist zum Glück dabei und der überaus lobenswerte Ferry Gruber (1926-2004) singt es perfekt. So ein Song lässt Paul Abrahams künstlerischem Spektrum Gerechtigkeit widerfahren. Aber schade, dass die kritische erste Strophe gestrichen wurde:

'Schwarzes Gesicht, wolliges Haar
grosses Saxophon.
Kennt ihr mich nicht dort aus der Bar?
Applaus ist mein Lohn.
Doch im Salon oder beim Lunch
weicht mir jeder aus.
Zähl ja nicht voll
bin ja kein Mensch, bin nur ein Nigger.....'

Auf der CD treten Theater-Atmosphäre und dramatische Handlung völlig in den Hintergrund, und die drastisch-musikalischen Effekte werden durch das neue Arrangement gedämpft. Das Ganze will nicht mehr als eine angenehme Melodienfolge (lauter 'Ohrwürmer'!) sein. Aber zum Glück auch nicht weniger: Schramm und Schock singen unwiderstehlich, Gruber (kurz vor den Aufnahmen zum Bayrischen Kammersänger ernannt) ist ein luxuriöser Buffo-Tenor und Schmidt-Boelcke ein mit allen Wassern gewaschener Dirigent.

1971: Studio-Aufnahme Duett 'Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände' aus 'Viktoria und ihr Husar' (Sony/BMG: Eurodisc) mit Anna Moffo, sopr. und Werner Schmidt-Boelcke, dir.

1971 veröffentlichte BMG zwei LPs mit Anna Moffo (1932-2006) und Rudolf Schock. Die eine LP enthielt Operettenduette, die andere Melodien aus amerikanischen Musicals und Filmen. Die ausgezeichneten Tonaufnahmen fielen mir durch eine grosse Transparenz auf. Was die Operette anbelangte, wurden die Duette sehr komplett aufgenommen. Manchmal sogar mehr als komplett. Das mit der Absicht, die Solisten noch einmal extra glänzen zu lassen. Die Folge war, dass der 56-jährige Rudolf Schock (kurz nach der Erholung vom Herzinfarkt und in zunehmendem Masse mit sich ändernden vokalen Möglichkeiten konfrontiert) ein einziges Mal Stimmprobleme hatte (z. B. bei der überflüssigen 'Zugabe' im 'Grafen von Luxemburg'-Duett). Standen die Aufnahmen unter Zeitdruck oder ging etwas bei der definitiven Tonmontage schief?
In 'Reich mir zum Abschied noch einmal.....' droht auch ein solches Problem im letzten Teil des Duetts ('.....Liebe und Glück.....'). Dennoch lohnt es sich, sich die ganze Ausführung dieses Duetts anzuhören. Schock singt mit feinen Nuancen: u.a. mit einem einigermassen zynischen (oder ironischen?) Unterton bei: 'Einmal, da wirst du an mich denken...'. Moffo ist eine stimmschwere Viktoria. Sie singt imposant, aber wohl wie in einer 'opera seria' (Vgl. die Leichtigkeit von Schramm und namentlich Bak).

1985: Live-Aufnahme Duett 'Reich'mir zum Abschied noch einmal......' aus dem 'Concertgebouw Amsterdam' (Tros-TV-Nederland) mit Cristina Deutekom, sopr. und Franz Bauer-Theussl, dir.
(SEIT 2009 AUF CD/DVD ERHÄLTLICH! SIEHE 'RUDOLF SCHOCK IM TONFILM/AUF DVD'!).

September 1985 sang Rudolf Schock zum letzten Mal in der 'Abend in Wien'- Konzertreihe. Neben Deutekom (geb. 1931 und einst auch gefeierte Königin der Nacht in Mozarts 'Zauberflöte') und Schock war der Bass-bariton Marco Bakker der 3. Solist. (NB: ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass Cristina Deutekom schon 1968 mit Schock einmal unter Robert Stolz in einem 'Abend in Wien'-Konzert gesungen hat. Sie sprang damals für die kranke Margit Schramm ein).

Die Aufnahme des Paul Abraham-Duetts ist ein rührendes Dokument. Der Stil. worin 'einander noch einmal die Hände gereicht wird' war einerseits feierlich (Deutekom) und andrerseits tarnend und kompensierend (Schock). Schocks '...Liebe und Glück...' gelang ihm vierzehn Jahre nach der Moffo-Aufnahme übrigens wieder prima. Und jener Anflug von Zynismus oder Ironie bei 'Einmal, da wirst du an mich denken'? Der war, glaube ich, stärker geworden.

Krijn de Lege, 6.11.2007/15.6.2010/17.2.2016

Keine Kommentare: