Im 17. und 18. Jahrhundert war das MUSIKTHEATER noch hauptsächlich der angenehme und geschmackvolle Zeitvertreib einer kulturell gebildeten Elite.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde es unter allen Schichten der Bevölkerung populär.
Christoph Willibald Gluck 1775 Gemälde von Joseph-Siffred Duplessis 1725-1810 |
Was sich aber auch ändert: der kreative Mensch bleibt. Er kann zwar dann und wann mit zunehmendem Alter behäbig werden und/oder die Gunst des Publikums verlieren. Aber dann gibt es immer wieder eine neue, künstlerische Strömung oder Persönlichkeit, die das heilige Feuer zum Lodern bringt.
Regelmässig sprach ich über die ernsthafte, 'italienische opera seria', deren Form und Inhalt an strenge Regeln gebunden waren.
Über die heitere 'opera buffa', die grossenteils auf Regeln verzichtete.
Über Sänger, von denen man lange Zeit verlangte, sie suchen die Expressivität ihrer Arien und Lieder in musikalischen Verzierungen.
Darauf über Sänger, die ihre Expression jedoch auf das, was man sang, richten sollten.
Über Götter und Könige, Adlige und Hohepriester, die im Mittelpunkt der Opernhandlung stehen sollten, und danach über gewöhnliche Menschen von Fleisch und Blut, die erst wirklich eine Oper wert waren.
Solche Wachablösungen oder genauer gesagt: jene launenhaften Zeitbewegungen von 'Aktion, Reaktion, Gegenreaktion'/ 'These, Antithese, Synthese' vollziehen sich natürlich ganz allmählich, und oft entdeckt man erst im nachhinein, was ein wesentliches Anzeichen einer Reform und/oder wer der tatsächliche Reformer war.
Christoph Willibald Gluck war so ein Reformer: "Aus heutiger Sicht ist Glucks Bedeutung für die Oper nur mit der Claudio Monteverdis, Wolfgang Amadeus Mozarts und Richard Wagners zu vergleichen" ('Der grosse Kulturführer' - Die Zeit 2008).
Christoph Willibald - Ritter von - Gluck (1714 - 1787)
wird von seinen (wohlhabenden) Eltern aus Erasbach/Oberpfalz mal nicht stimuliert, Künstler zu werden: er soll - genauso wie der Vater - ein fürstlicher Förster werden. Gluck ist jedoch mehr an Musik als an Bäumen interessiert. Ohne die Eltern zu informieren verlässt er das väterliche Haus und verreist nach Prag.
Dort studiert er Musik, zieht als Musikant umher, reist nach London ab (wo Georg Friedrich Händel, Altmeister der 'opera seria', noch tätig ist), besucht dann so ungefähr alle anderen Zentren des europäischen Musiktheaters und produziert en passant etwa 10 Opern, zunächst im üblichen, italienischen 'opera seria'- Stil. Ab 1752 ist Gluck oft in Wien, wo er Musikstunden gibt. Unter seinen Schülern ist die kleine Marie-Antoinette (1755-1793), die spätere, tragische Königin Frankreichs. Gluck widmet sein Interesse stets mehr der französischen Opernkultur und beginnt, mit der Gattung der 'opéra comique' zu experimentieren. Im Jahre 1761 macht er mit dem charismatischen Dichter Ranieri da Calzabigi (1714-1795) Bekanntschaft, und dieser verfasst für ihn das Libretto für eine andere Art Oper, die als erste REFORM-OPER in die Musikgeschichte eingehen sollte.
Ranieri da Calzabigi |
Ranieri da Calzabigi will alles vermeiden, was im Operntheater durch "eitle Sänger und allzu grosse Nachgiebigkeit der Komponisten zur Lächerlichkeit abgewürdigt worden ist". Gluck gewinnt die Überzeugung, Da Calzabigi habe recht und stellt die Weichen prinzipiell anders: die sich "endlos" hinausziehenden Da-capo-Arien sind von jetzt an nicht länger als zweiteilig, Ensembles bekommen dengleichen Status wie Solos, die Regel wird gestrichen, es gebe in einer Oper sechs Hauptrollen, der Anteil der Ballettänzer, des Chores und Orchesters wird viel wichtiger für die Opernhandlung, und die Expression der Sänger soll nicht länger gekünstelt, sondern natürlich, schlicht und verhalten sein.
Die Legende
ist aus einer Zeit, die noch vor der griechisch-römischen Zivilisation liegt, älter als 1100 vor Christi Geburt also. Ihre Herkunft ist dunkel (gewiss kein Thema für eine 'opera seria'!) und eng mit Magie und primitiver Religiosität verwoben. Ihre Botschaft gilt für die Ewigkeit und ist ein moralischer Halt für den beschränkten Menschen, der auf dieser Erde immer in Beziehung zum Schicksal stehen soll.
Die Oper
1. Akt: Der Dichter und Sänger Orpheus leidet sehr unter dem Tode seiner Euridice durch einen giftigen Schlangenbiss. Liebesgott Amor tritt hervor und überbringt ihm eine Botschaft der Götter: Er bekommt die einmalige Chance, in die Unterwelt hinabzusteigen und Euridice ins Leben zurückzuführen. Orpheus soll aber eine einzige Bedingung erfüllen: auf dem Wege in die Oberwelt darf er nicht nach Euridice umsehen.
2. Akt: Im 'Hades (Totenreich)' angekommen, muss Orpheus zuerst die Furien bekämpfen. Er siegt und darf jetzt die Gefilde der seligen Geister betreten. Die Geister führen das Liebespaar zusammen. Der Rückzug zur Oberwelt fängt an. Orpheus geht vor Euridice her.
"Orpheus and Eurydice" 1993 by S.P. Panasenko (photo licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license) |
3. Akt: Euridice versteht Orpheus nicht: Er wendet sich gar nicht nach ihr um. Sie ist tief enttäuscht und will ins Totenreich zurück, und dann sieht Orpheus nach ihr um. Euridice bricht zusammen und stirbt. Orpheus beklagt sein Schicksal ('Che farò senza Euridice'/'Ach, ich habe sie verloren'). Er möchte mit Euridice sterben, denn der "Trost des Lebens ist nirgends mehr für mich". Aber wieder erscheint Amor. Die Götter sind durch Orpheus' Treue sehr gerührt. Sie fassen einen neuen Entschluss: Euridice darf weiterleben und mit Orpheus zur Oberwelt zurückkehren.
Der glückliche Ausgang der Oper ist ein Zugeständnis von Gluck/Da Calzabigi an der 'opera seria', die nach den Regeln der damaligen Kunst positiv enden sollte (und vielleicht auch am Verlangen aller Zeiten nach einem Happy-End). In der alten Legende geht es nämlich mit Orpheus und Euridice sehr schlecht aus.
Die Erstaufführung fand 1762 in Wien statt, aber der grosse Erfolg der Oper kam erst 1774 und zwar in Paris. Die fürstliche Unterstützung der früheren Musikschülerin Marie-Antoinette muss für den Komponisten dabei ein glücklich machender Stimulus gewesen sein.
Marie Antoinette de Habsbourg Gemälde von Joseph Ducreux 1735-1802 |
Die Arie 'Che farò senza Euridice'/ 'J'ai perdu mon Euridice'/ 'Ach, ich habe sie verloren'
Wenn 'Orfeo ed Euridice' die REFORM-OPER war, die die Kunstform 'Oper' grundlegend änderte, dann war dieses Lied die REFORM-ARIE, die die klassische 'Aria'- Auffassung durchbrach. Die unverblümte Liedhaftigkeit dieses 'lamentos (Klageliedes)' muss 1762 das Publikum - angenehm oder unangenehm - überrascht haben. Und dann die reizende Melodie! Von einer Schlichtheit, die in erster Instanz nicht zum schrecklichen Schicksal des beklagenswerten Orpheus passt. Aber gerade in dieser Schlichtheit liegt die Ausdruckskraft des Liedes. Orpheus stellt die Verzweiflung nicht breit zur Schau. Er zeigt kein wütendes Aufbegehren.
(Vor kurzem sah ich mir im Fernsehen den mit 8 Oscars gekrönten Film 'Slumdog Millionaire' an: Es gelingt den kleinen Brüdern Jamal und Salim noch in letzter Sekunde, mit der Eisenbahn einer Verbrecherbande zu entwischen. Das Mädchen Latika ist aber zu spät: sie bleibt in Todesangst auf dem Bahnsteig zurück. Dann hören - und sehen - wir auf einer Freilichtbühne einen Tenor, der das Klagelied von Orpheus singt. Aber der Sänger singt möglichst tränenziehend, in einem Stil, der (vielleicht) zum 'verismo' eines Leoncavallos, Mascagnis oder Puccinis passen könnte, aber gewiss nicht zum Glucks 'lamento' aus dem 18. Jht.).
Nein, Orpheus nimmt sich zusammen und fügt sich ins Unvermeidliche. Aber die Selbstbeherrschung ist hauchdünn. Das kann man am Ende der Arie hören, und zwar in der von ihm mit Mühe hinuntergeschluckten Emotion der zweimal gesungenen Schlusszeile. Anschliessend unterstricht der schlanke, fast in Entzücken geratene Orchesterklang bitter Orpheus' Leiden dadurch, dass er die Schlusszeile noch ein drittes und viertes Mal wiederholt.
Von tieferen und höheren Kastraten, von Tenor- und Baritonstimmen
In der Wiener - italienisch gesungenen - Premiere aus dem Jahre 1762 singt ein 'alto castrato (männlicher Alt)' den Orpheus in der sogenannten 'tiefen' Lage, und 1769 in Parma ein 'soprano castrato(männlicher Sopran)' in der 'hohen' Lage.
Im Jahre 1774 wählt Gluck einen hohen Tenor für die - französisch gesungene - Pariser Premiere. Die grosse Zeit der Kastraten läuft dann ab, und bis tief ins 19. Jht. sind Tenöre die bevorzugte Besatzung der Orpheus-Rolle. Der Komponist und Dirigent Hector Berlioz setzt ab 1859 in Paris dann aber wieder eine Mezzo-Sopranistin ein, und im 20. Jht. kann man alle Stimmlagen - abgesehen vom Bass - als Orpheus erleben.
Rudolf Schock sang 'Ach, ich habe sie verloren'
am 30. Mai 1965 im Berliner Eurodisc-Studio, und er wurde vom Berliner Symphoniker unter Wilhelm Schüchter begleitet. An diesem Tag nahm Schock mit derselben Begleitung auch Kompositionen von Händel, Silcher, R. Strauss, Weingartner und Liszt auf, sowie die Lieder 'All mein' Gedanken, die ich hab' und 'Der Mond ist aufgegangen'. Zusammen mit Aufnahmen aus früheren Jahren erschienen diese Titel auf der LP: 'Festliche Stunden mit Rudolf Schock' (Eurodisc 72721 KR).
Was die Orpheus-Arie betrifft, war das eigentlich ein Reinfall: so ein Klagelied für die festlichen Stunden?
Aber 1985 machte Eurodisc mit der 4LP-Box 'Meine Welt ist die Musik' (Eurodisc 302 520-435) den Fehler wiedergut. Da gehörte Glucks Reform-Arie ganz ordentlich zum Opernteil.
Leider hat man bis heute Schocks stilistisch und vokal intelligent ausgeführte Orpheus-Arie noch nicht auf CD herausgebracht. Sie blieb ohnehin ziemlich im Hintergrund. Und das sehr zu Unrecht.
Rudolf Schock machte mit seiner bemerkenswert verhaltenen Darstellung das innerliche Zusammengehen von Orpheus' Beschwörung des Schicksals und das Erlebenmüssen eines ohnmächtigen Kummers völlig nachvollziehbar.
Er singt übrigens - im Gegensatz zu vielen Tenören - die allererste Wiener Version aus dem Jahre 1762, die in der tieferen Alt-Lage also. Dietrich Fischer-Dieskau tat das als Bariton selbstverständlich auch in seinen beiden, vollständigen Orpheus-Aufnahmen aus den Jahren 1956 und 1967. Aber in einer jüngeren, integralen Aufnahme (1982) singt Orpheus-Tenor Peter Hofmann die Rolle wie Schock in der tieferen Lage. Diese Auffassung könnte wohl mal wirkungsvoller an die von Gluck beabsichtigte Expressivität durch natürliche Einfachheit herankommen.
'Paride ed Elena' und 'Iphigénie en Tauride'
In Schocks Diskographie gibt es noch zwei weitere Gluck-Arien.
Auf der LP 'Rudolf Schock singt unsterbliche Arien' (Eurodisc 75357 KR) singt er auf italienisch die Arie von Paris 'O del mio dolce ardor' aus 'Paride ed Elena' und auf der LP 'Für meine Freunde' (Eurodisc 200 090-366) auf Deutsch die Arie von Pylades 'Nur einen Wunsch, nur ein Verlangen' aus 'Iphigénie en Tauride'. In beiden Fällen dirigiert diesmal Fried Walter den Berliner Symphoniker.
'Paride ed Elena'
ist nach 'Orfeo ed Euridice' und 'Alceste' (1767) die dritte - Wiener - italienisch gesungene Reform-Oper von Gluck/Da Calzabigi. Danach sollten in Paris noch die bedeutenden - französisch gesungenen - Werke 'Iphigénie en Aulide' (1774) und 'Iphigénie en Tauride' (1779) Premiere haben.
'Paride ed Elena' aus dem Jahre 1770 war schon von der Erstaufführung an eine unterschätzte Oper. Und das blieb so. Nur die Arie 'O del mio dolce ardor' sangen Sänger (Männer und Frauen) bis zum heutigen Tag in den Konzertsälen und auf Tonträgern weiter. So auch Rudolf Schock im Jahre 1966 auf der obenerwähnten LP.
Glucks Titelfiguren in der Oper verlieben sich - leider - ineinander. Die fatale Liebe zwischen Paris aus Troja und Helena aus Sparta führt zu den Trojanischen Kriegen (Jacques Offenbach sollte dieses Thema ein Jahrhundert später für seine Operette 'La belle Hélène' benutzen, eine geistreiche Parodie auf die griechische Mythologie). Gluck konzentriert die Handlung seiner Oper vor allem auf die Liebesgeschichte und weniger auf die ernsthaften Folgen, obschon diese wohl von einer Wolke herab von der griechischen Göttin Pallas Athena vorhergesagt werden.
Les Amours de Paris et d'Hélène Gemälde von Jacques-Louis David 1748-1825 |
Paris' Liebesbezeigung 'O del mio dolce ardor (Endlich soll mir erblüh'n ein wonnevoll' Geschick)' klingt im 1. Akt der Oper, und ist wegen ihrer heiklen 'Phrasierung' gefürchtet.
'Phrasen' in der Musik sind 'gesungene Tongruppen', die so logisch wie möglich mit 'gesprochenen Wortgruppen' in der Umgangssprache zusammenfallen sollen. Es ist dann praktisch, wenn der Komponist im gesungenen Text eine kurze Pause (Zäsur) an Stellen einbaut, wo jemand, der spricht, auch ein wenig extra Atem geholt hätte. Operntexte, die auf eine natürliche Weise mit der Umgangssprache 'mitatmen', sind eben für den Zuhörer leichter zu verstehen.
In 'O del mio dolce ardor' sind Glucks 'Phrasen' dermassen in die Länge gezogen, dass sie eine sehr gute Atemtechnik des Sängers beanspruchen. Rudolf Schock hatte eine solche Technik, so dass ihm die Darstellung der schönen Arie keine Probleme bereitet.
'Nur einen Wunsch und ein Verlangen'
Eurodisc LP 200 090-366 öffnet mit der Pylades-Arie |
In genannter Gluck-Arie zeugt das an Oreste gerichtete, innig empfundene Freundschaftsversprechen - selbst "wenn das Schicksal uns betrügt" - von seinem felsenfesten Einfühlungsvermögen. Der Klang der älter werdenden Stimme passt eigentlich nicht mehr zum Opern-Charakter des jugendlichen Pylades. Aber trotzdem weiss Schocks melancholische Version das Herz zu bewegen.
Krijn de Lege, 4.4.2012/29.9.2019