05.12.11

RUDOLF SCHOCK SINGT UMBERTO GIORDANO, FRANCESCO CILEA UND AMILCARE PONCHIELLI


Foto EMI Music Archive



















Rudolf Schock singt Umberto Giordano, Francesco Cilea und Amilcare Ponchielli

"... Schocks germanische Italianità hatte eine Qualität, an die sich zu erinnern lohnt" (Karl Löbl/Robert Werba in Hermes Handlexikon 'Opern auf Schallplatten' 1983)

"Rudolf Schock hatte die vielgerühmte, vielgesuchte Träne in der Stimme, wie sie gewöhnlich italienischen Tenören vorbehalten ist..." (Karl Schumann, Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung)

"... auf Italienisch demonstrierend, wie ein deutscher Gigli kantabelsten Belcanto verströmen kann" (Wolfram Schwinger 'Die Zeit' 1986)

"... der dunkle, wohlig einschmeichelnde, samtene Unterton seines lyrischen Tenors korrespondierte geradezu ideal mit einer angeborenen Musikalität und stilistischen Sicherheit, die ihm in sämtlichen Bereichen der E- und U-Musik zugute kam" (C.D. Schaumkell 'Fonoforum' 1987)

"... immer mehr wurde ich mir seiner unglaublichen Musikalität bewusst ... ein glänzendes Beispiel hört man in 'Rigoletto' unter Fricsay ...  die magischen halben Töne bilden eine Gesangsstunde an sich ... seine Verführungskünste mit dem höchsten Grad von Intimität ... (Paul Korenhof  'Opus klasiek. nl' maart 2006) 

"...Tenorstimme mit einem besonderen Schmelz, der ihn auch im italienischen Fach brillieren liess" (Daniel Hirschel 'Neue Deutsche Biographie' 23 - 2007)

Also eine Handvoll Zitaten, die den Akzent auf Live-Darstellungen, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen von Rudolf Schock aus dem italienischen Opernrepertoire legen. Sie beziehen sich auf den Sänger in seiner vokal wichtigsten Periode: 1946 bis in die sechziger Jahre des 20. Jhts. (für Einzelheiten: siehe den 3. Teil von 'RS, Sänger und Darsteller' und den 1. Teil von 'RS singt Gaetano Donizetti').

Schocks Affinität mit u.a. Verdi, Puccini, Donizetti, Mascagni und Leoncavallo kann man einfach aus den zahlreichen Auftritten in ihren Opern und der Programmwahl bei Opernkonzerten erschliessen, vor allem aber auch aus der Menge Aufnahmen für Rundfunk, Schallplatte und Film von - zwar oft Deutsch gesungenen - italienischen Gesamtopern und/oder Fragmenten daraus.
Zwei tontechnisch beschränkte, aber historisch interessante Privataufnahmen aus dem Jahre 1947 unterstreichen diese Affinität. Ich empfing ein Kassettentape mit diesen Aufnahmen vor einigen Jahren von Mike Richter, amerikanischem Sammler/Nonprofit-Distribuent von Opernaufnahmen und Redaktor der 'Audio (Opera-) Encyclopedia'.
Berlin 1947: Harold Byrnes und Rudolf Schock
Das Tape befand sich im Nachlass von Harold Byrnes (1927 - 2005), Richters Freund und Enzyklopädien-Mitarbeiter der ersten Stunde. Harold ('Hal') Byrnes wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland bei der Reanimierung des Berliner Opernlebens eingesetzt. In dieser Eigenschaft begegnete er Rudolf Schock. Byrnes bewunderte den Tenor schon schnell und befreundete sich mit ihm. Aus dieser Periode stammen die selbstgemachten Aufnahmen zweier Tenor/Bariton-Duette mit Klavierbegleitung (von Byrnes?) aus'Verdis 'La Forza del Destino' und Puccini's 'Madama Butterfly'. Byrnes hält in den Baritonpartien wacker stand, und Schocks Stimme glänzt in denen des Tenors. 'Multikulturell' ist an der Verdi-Aufnahme, dass Byrnes Italienisch singt und Schock Deutsch.

In Schocks diskographischem Nachlass werden neben Werken von Verdi, Puccini u.a. auch Fragmente aus Opern italienischer Komponisten genannt, die beim breiten Publikum weniger bekannt sind. Der Name Amilcare Ponchielli erinnert vielleicht hier und da noch an den populären 'Tanz der Stunden'. Umberto Giordano aber ist lästiger einzuordnen (jedenfalls soll man ihn nicht mit dem 'Caro mio ben'-Komponisten Giordanverwirren) und Francesco Cilea ist fast völlig unbekannt.

'VERISMO'
In meinen Einführungen bei 'RS singt d'Albert/Bizet/Donizetti' beschrieb ich  kurz den Übergang im 19. Jht vom strengen, italienischen 'schönen Gesang (bel canto)' in eine freiere Gesangskunst, deren dramatischer Ausdruck reichlich drastisch war. Dieser neue 'Belcanto' klang aus der Kehle 'irdischer Opernfiguren', die an die Stelle mythologischer Helden und Heldinnen traten. Die Librettisten ersetzten 'Statische Typen' allmählich durch 'natürlichere Charaktere' aus einem Alltagsleben, worin hinreissend gelebt und gestorben wurde. Das Publikum wünschte sich realistischere Operngeschichten, greifbare Figuren in einer greifbaren Welt: der 'verismo' eroberte das Musiktheater. 

Amilcare Ponchielli (1834 - 1886)
Die späteren Opern von Gaetano Donizetti, 'Carmen' von Georges Bizet aus dem Jahre 1875, Guiseppe Verdis Opern von 'Nabucco' (1842) ab und Amilcare Ponchiellis bedeutendste Oper 'La Gioconda' (1876) markieren den Übergang zum 'verismo'. In Italien schafft Verdis persönlicher 'verismo' qualitativ stets bemerkenswertere Opern: seine Charaktere widerspiegeln nicht nur das Benehmen 'gewöhnlicher Leute', sondern zugleich den immer wieder wechselnden Wahn des Alltags, der dieses Benehmen beeinflusst.

Ponchielli komponiert mit 'La Gioconda' eine Oper, die in Italien und Nord- und Südamerika zum Standardwerk der veristischen Operngattung wird. Auch unterrichtet er um 1876 herum Pietro Mascagni ('Cavalleria rusticana', 1890) und Ruggiero Leoncavallo ('Pagliacci', 1892), die etwa 15 Jahre später beide den 'verismo' wirklich populär machen sollten. Giacomo Puccini ('Manon Lescaut', 1893, 'La Bohème', 1896, 'Tosca', 1900, 'Madama Butterfly', 1904) studiert auch bei Ponchielli und ist ebensogut dem 'verismo' tributpflichtig. Aber wie Verdi konfrontiert er seine Opernfiguren ausdrücklicher mit dem Zeitgeist, der sie überkommt.

'La Gioconda'
lebt in Venedig und ist Strassensängerin (Mit jener andren 'Gioconda' oder 'Mona Lisa' von Leonardo da Vincis Gemälde hat sie nichts zu tun). Obschon der Name 'Gioconda' 'mit Freude' bedeutet, geht es freudlos mit ihr aus:
Maria Callas als Gioconda
An der Unterseite der Gesellschaft gibt es den Strassensängerkollegen Barnaba, der Gioconda anbetet. Aber ihr Herz klopft für jemanden ganz oben: Enzo, einen Edelmann aus Genua. Enzo liebt seinerseits Laura, die Gattin eines schonungslosen Inquisitoren (Ketzerjägers). Barnaba 'regelt' für Enzo und Laura ein nächtliches Rendezvous auf Enzos Schiff, aber gleicherzeit warnt er Lauras Gatten. Der dramatisch überladene Plot zerrt den Zuschauer von einer Katastrophe in die andre. Am Ende der Tragödie führt eine Gondel Enzo und Laura - mit Freude - ins Glück (?), während Gioconda, um den Liebesakt Barnabas zu entkommen, Selbstmord begeht.

Die 'Danza delle ore (Tanz der Stunden)' ist ein Ballett, das im 2. Bild des 3. Aktes getanzt wird (die Oper zählt 4 Akte): der Inquisitor gibt ein Fest, weil er glaubt, er habe seine Gattin Laura gezwungen, sich zu vergiften. Die Tenorarie 'Cielo e mar (Himmel und Meer)' singt Enzo im 2. Akt auf dem Schiff. Er wartet unter dem Sternhimmel auf Laura, mit der er  das tückische Rendezvous hat.

Das Opernlibretto ist von 'Tobia Gorrio', hinter dem sich Arrigo Boïto  (1842 - 1918) versteckt.
Gorrio/Boïto gründete seinen Text auf Victor Hugos Schauspiel 'Angelo, der Tyrann von Padua'. Arrigo Boïto hat sich in der Musikgeschichte auf zweierlei Weise unsterblich gemacht: erstens dadurch, dass er 'Mefistofele', eine eigene brillante Oper nach Goethes 'Faust', komponierte (1868) und zweitens, weil er die Textbücher für Guiseppe Verdis absolute Meisterwerke 'Otello'(1887) und 'Falstaff'(1894) verfasste.
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Rudolf Schock singt aus 'La Gioconda'
  • 2. Akt: 'Cielo e mar' (1963)
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Francesco Cilea (1866 - 1950)
Cilea studierte zusammen mit Umberto Giordano am Konservatorium von Neapel. Sein Wesen war zurückhaltend, schüchtern sogar und sein 'verismo' mild: weniger dramatisch, poetischer, lyrischer. Das Foto des Tenors Tito Schipa, der eine schützende Hand auf die Schulter Cileas legt, passt zu dieser Charakterisierung.
Francesco Cilea am Klavier
mit Tito Schipa




















Cilea beeindruckte mit der Oper 'Adriana Lecouvreur',  die mit Enrico Caruso an der Mailander Scala 1902 Premiere hat. Einige Jahre vorher aber hatte er mit der 'L'Arlesiana' schon die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Der 24-jährige Caruso verbuchte in dieser Oper mit der Rolle von Federico seinen ersten grossen, italienischen Erfolg. Federicos 'lamento (Klagegesang)' 'E la solita storia del pastore (s'ist die alte Geschichte von dem Hirten)' behauptete sich auf dem Programm der berühmten Tenöre.

'L'Arlesiana' 
Vielleicht ehrte Cilea mit dieser Oper aus dem Jahre 1897 den französischen Schriftsteller Alphonse Daudet (1840 - 1897), der im selben Jahr starb. Jedenfalls beruht das Libretto von Leopoldo Marenco auf 'L'Arlésienne (Mädchen von Arles)', einem Schauspiel von Daudet aus dem Jahre 1872, wofür niemand weniger als Georges Bizet die Bühnenmusik schrieb (siehe auch 'RS singt Bizet'). Bizets 'L'Arlésienne suite' lebt bis auf heute selbständig - unabhängig von Daudets Stück also - im Konzertsaal weiter. Cilea/Marencos Oper erlebte dagegen noch ganz selten eine Aufführung.

Handlung der Oper:
Die  verwitwete Bauersfrau Rosa Mamai hat 2 Söhne: einen geistesgestörten, kleinen Jungen, den man wahrscheinlich deshalb 'L'Innocente (den Unbekannten)' nennt, und einen erwachsenen Romantiker Federico. Federico hat sich nur so, aus einer überspannten Phantasie, in ein Mädchen verliebt, das er noch nie gesehen hat. Den Zuschauern bleibt sie während der gesamten Oper gleichfalls verborgen. Niemand aus dem Dorfe kennt sie, Metifio, den Pferdeknecht ausgenommen, der Rosa berichtet, er habe "die Schlampe" schon mehr als ein einziges Mal besucht.
Rosa hat im 2. Aufzug alles dafür übrig, dass ihr Patenkind Vivetta sich mit Federico verheiratet. Federico verlässt darum frustriert den Bauernhof. Er läuft jedoch dem jüngeren Bruder in die Arme, der sich in Gesellschaft von einem alten Hirten befindet. Wenn 'L'Innocente einschläft, überredet der Hirt Federico, Arles nicht zu verlassen. Federico singt dann das 'lamento' 'E la solita storia...' . Er deckt den schlafenden Knaben zu und ist eifersüchtig auf das Kind, weil es so sorglos schlafen kann.
Im 3. und letzten Aufzug heiratet Federico widerwillig Vivette, aber die unstillbare Sehnsucht nach 'L'Arlesiana' macht ihn wahnsinnig. Er bildet sich ein, dass 'seine' Geliebte nach ihm um Hilfe ruft, und springt aus dem Fenster des Heubodens dem Tode entgegen.
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Rudolf Schock: LAMENTO aus 'L'Arlesiana'
1954, Aufnahme beschädigt

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Umberto Giordano (1867 - 1948)
Umberto Giordano im Jahre 1896
Giordano brach 1896 in Mailand mit der Oper 'Andrea Chenier' durch, die zum wahren Welterfolg wurde. Zwei Jahre später wurde Giordano wegen seiner 'Fedora' wiederum bejubelt. Wie bei Cilea trug Enrico Caruso als Federico seinen Anteil dazu bei. Auch gelang es dem Startenor, 'Fedora' in New York aufführen zu lassen (1906).  Die andern Opern von Giordano kamen nicht so an, obwohl - laut Leo Riemens (1959) - die drei letzten Opern "das Wichtigste seien, das Giordano geschrieben habe". Eine dieser Opern: der Einakter 'Mese Mariano (Marienmonat)' "solle Puccini tüchtig zur 'Schwester Angelica' angeregt haben".

'Fedora'
Prinzessin Fedora Romanov hofft, den Grafen Vladimir Andrejevich zu heiraten. Dieser stirbt aber, bevor es soweit kommt. Fedora erfährt, der Graf sei ermordet worden. Sie zieht, nachdem sie das Personal befragt hat, die Schlussfolgerung, Graf Loris Ipanov müsse der Mörder sein. Sie schwört, den Tod des Grafen Vladimir zu rächen.
Im 2. Akt verlockt Fedora Loris dazu, einem Fest in Paris beizuwohnen. Loris tritt an sie heran. Es ist klar, er habe sich in sie verliebt. Fedora gibt ein doppeldeutiges Signal ab, worauf Loris reagiert mit der 'arioso' 'Amor ti vieta di non amar (Liebe gestattet Ihnen nicht, liebzuhaben)' (arioso = kleines, melodiöses Sologesangsstück auf der Grenze zwischen Rezitativ und Arie ).

Fedora gelangt allmählich zur festen Überzeugung, Loris, sein Bruder und ein Freund hätten den Mord begangen. Sie beauftragt jemanden, den Behörden sofort einen Brief zu überbringen. Wenn Loris später zurückkommt, überschüttet Fedora ihn mit Beschuldigungen. Loris macht ihr deutlich, es ginge um ein ehrliches Duell. Vladimir hätte nämlich Loris' Gattin verführt. Fedora glaubt ihm, gerade in dem Augenblick, als Polizisten im Begriff sind, in den Salon einzudringen und Loris festzunehmen. Fedora hilft Loris bei der Flucht.

Der letzte Akt bringt noch mehr Elend. Loris und Fedora sind in die Schweiz gefahren. Dort empfängt Loris die Nachricht, sein Bruder und sein Freund seien durch Zutun einer Frau verhaftet worden. Sie stürben unter verdächtigen Umständen in Gefangenschaft, und die alte Mutter habe die Unglücksbotschaft nicht überlebt. Fedora gesteht, SIE sei jene Frau. Sie stirbt in Loris' Armen, nachdem sie heimlich Gift genommen hat.

Das Libretto von Arturo Collautti - nach einem Bühnenstück von Victorien Sardou - leidet unter einem Übermass schauderhafter Ereignisse und mutet schon geraume Zeit veraltet an. Nur die Tenorarioso 'Amor ti vieta...' konnte sich der Vergessenheit entziehen. 
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Rudolf Schock singt aus 'Fedora':
  • 2. Akt: 'Amor ti vieta di non amar' (1963)
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Umberto Giordanos Beerdigung am 14. November 1948







'Andrea Chenier'
Luigi Illica (1857 - 1919) schrieb das Textbuch für das dramatisch aufreibende Werk, und Giordan0 komponierte die prachtvolle Musik dazu. Verdi hätte sich für so eine Oper bestimmt nicht geschämt. Die Handlung ist im Geiste des Verismus: roh und spannend, aber die Hauptfiguren machen überdeutlich eine Entwicklung durch. Ihr Bild von den Geschehnissen um sie herum ändert sich, und damit ändert sich auch ihr Benehmen, das risikovoll wird. Die Oper spielt sich zwischen 1789 und 1794 ab, kurz vor und während der Französischen Revolution. Die wichtigsten Rollen: der junge Dichter Andrea Chenier, Carlo Gérard, Lakai im Palast der Gräfin de Coigny und - später -führender Revolutionär, und Maddalena de Coigny, Tochter der Gräfin.

Der echte Dichter André Marie (de) Chénier lebte von 1762 bis 1794.
Seine Gedichte und Streitschriften könnten in historischer Perspektive als eine frühe Ausdrucksform der 'romantischen' Bewegung aufgefasst werden. Die 'Romantiker' hegten Ideale, womit sie aus der Realität des Lebens treten wollten. Zu diesen Idealen gehörten auch die Zielsetzungen der Revolution. Es ist bekannt, dass der anfängliche Revolutionär Chénier diese Zielsetzungen schon bald mit einem Fragezeichen versah. Er wurde darum als Verräter gesehen, verhaftet und hingerichtet. Die Revolution frisst eben sehr oft die eigenen Kinder.
Marats Tod (Gemälde von Jacques Louis David)









Foto Bregenzer Festspiele 2011
'Andrea Chenier'/ Karl Forster
Die Oper fängt wieder mit einem Fest an, und zwar im Palaste der Gräfin de Coigny. Die adligen Gäste sind verärgert über ein Gedicht, das der Dichter Andrea Chenier - eigentlich auf dringendes Verlangen der Maddalena - deklamiert: Arie 'Un di all'azzurro spazio...(Den Blick hatt' ich einst erhoben)'. Er fragt sich darin, warum nicht alle Menschen an der von Gott gegebenen Liebe Seiner Schöpfung beteiligt sein können. Die Festversammlung bekommt es erst gut mit der Angst zu tun, wenn der aufständische Lakai Carlo Gérard die grossen Gartentüren aufmacht und eine Horde von hungrigen Bettlern hereinmarschieren lässt.

Fünf Jahre später (1794) ist Chenier in einem Pariser Lokal und sieht er sich die ruhelose Menschenmenge in den Strassen an. Er zweifelt nun ernsthaft am Sinn der Revolution (!). Die Revolutionäre misstrauen schon einige Zeit seinen Absichten und bespitzeln ihn. Dann erscheint - als Volksmädchen vermummt - Maddalena: ihre Mutter sei getötet und das väterliche Haus zerstört worden. Sie ist untergetaucht und bestreitet in zweifelhafter Weise ihren Unterhalt. Chenier und Maddalena entbrennen in Liebe füreinander, aber in diesem Moment tritt Gérard - inzwischen einer der revolutionären Prominenten - auf die Bühne. Ein Spitzel hat ihm den goldenen Tip gegeben. Gérard erkennt anfangs nur die Maddalena, in die er sich in seinem vorigen Dasein verliebt hat. Maddalena schlüpft rasch weg, wenn Gérard und Chenier einander im Duell bekämpfen. Gérard wird verletzt, und erst dann erkennt er Chenier. Er erinnert sich an Cheniers Gedicht, worin letzterer die alte Gesellschaft anklagte und lässt ihn fliehen.

I 3. Akt wird Chenier verhaftet. Gérard gelangt in seiner Zerrissenheit zur Erkenntnis, er sei nur noch hinter einer persönlicher Rache her. Maddalena meldet sich freiwillig und ist bereit sich Gérard hinzugeben. Aber das Gute in Gérard siegt. Er nimmt die Beschuldigingen gegen Chenier zurück und verteidigt ihn beim Gerichtsverfahren. Dessenungeachtet lautet das Urteil, Chenier werde guillotiniert.

Der letzte Akt:
Chenier wartet in einer Zelle auf die Vollziehung des Urteils. Er liest seinem guten Freund Roucher sein letztes Gedicht vor: 'Come un bel di di Maggio (Gleich einem Frühlingsabend)'. Maddalena lässt sich von Gérard ins Gefängnis schmuggeln. Sie und Chenier singen das Liebesduett 'Vicino a te...(Du kommst zu mir, und der Himmel erhellt den dunklen Raum)'. In der Frühe des nächsten Morgens besteigen sie den Henkerskarren, der zur Guillotine fährt.

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Rudolf Schock singt aus 'Andrea Chenier':
  • 1. Akt: 'Un di all'azzurro spazio'/'Den Blick hatt' ich einst erhoben'(1951/1956)
  • 4. Akt: 'Gleich einem Frühlingsabend (Come un bel di di Maggio)' (1956)
  • 4. Akt: (mit Joan Hammond): 'Vicino a te...' (1950)
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Rudolf Schock singt Ponchielli, Cilea und Giordano
Rudolf Schock sang italienische Lieder und Opernfragmente bei weitem nicht immer in deutscher Sprache, wie man oft denkt oder schreibt. Das Verzeichnis mit Aufnahmen in der ursprünglichen Sprache zählt immerhin ungefähr 60 Titel auf Englisch, Französich und vor allem Italienisch. Von den sechs Opernfragmenten aus dem Werk von Ponchielli, Cilea und Giordano nahm Schock vier Titel in italienischer Sprache auf.

'CIELO E MAR' und 'AMOR TI VIETA'  
Enzos Arie 'Cielo e mar' aus 'La Gioconda' von Ponchielli und Loris' Arioso 'Amor ti vieta' aus Giordanos 'Fedora' sind Eurodisc-Aufnahmen aus dem Jahre 1963.
Wilhelm Schüchter dirigiert und Rudolf Schock - ausgezeichnet bei Stimme -serviert beide Solos auf Italienisch. Dazu singt er stilvoll, mit Flair und ohne Übertreibung.

'Cielo e mar' und 'Amor ti vieta' sind nicht auf CD erhältlich.
Sie stehen beide auf der alten LP 'Rudolf Schock - ein Sängerporträt' (Eurodisc 70608 KR).





Das kleine, aber feine 'Amor ti vieta' kann man auf der DVD 'Rendezvous mit Rudolf Schock' (Zyx Music DVD 3202) hören, die in kurzem aus Anlass des 25. Todestages von Rudolf Schock erscheint.


'Cielo e mar' kommt weiter auf der LP 'Rudolf Schock - Erinnerungen an Benjamino Gigli' (Eurodisc 78571 IU) vor.
N u r  auf dieser LP gibt es übrigens - insofern ich weiss -  auch Schocks deutschsprachige Version von Federicos Klagelied 'E la solita storia ('s ist die alte Geschichte)' aus Cileas 'L'Arlesiana'.

'S IST DIE ALTE GESCHICHTE VON DEM HIRTEN (E la solita storia...)'
wurde von Eurodisc Anfang Juni 1969 in deutscher Sprache aufgenommen, in einer Woche, worin Rudolf Schock ausschliesslich französische Opernarien einsang. Ich fragte mich oft, wie das italienische Gesicht in die französische Runde gekommen war. Der Grund könnte ein Missverständnis sein: 'L'Arlésienne' von Bizet, ein Rezitativ, das an französische Komponisten wie Massenet oder Thomas erinnert, und die Lyrik von Ciléa, die eigentlich Cilea hiess. Wie dem auch sei, ich bin sehr glücklich mit diesem ergreifend gesungenen 'lamento'. Für mich gehört es zum Kanon von Schocks schönster Darstellungen auf Platte oder Band.


Aber wie gesagt: das Cilea-Fragment finde ich allein auf der LP 'Rudolf Schock - Erinnerungen an Benjamino Gigli'.



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'ANDREA CHENIER'
Die Titelrolle verlangt einen 'demi-caractère ténor (tenore lirico spinto)', einen Tenor, der Lyrik und Dramatik mixen kann.
Solche Tenöre sind per definitionem ausserordentlich vielseitig (z.B. Gedda, Domingo, Schock), was nicht wegnimmt, dass auf beiden Seiten der (Stimm)Bandbreite Spezialisten aktiv sind, die ihnen entweder in strömender Lyrik (Wunderlich) oder metallischer Dramatik (Heldentenöre wie Del Monaco) überlegen sind.

Die Aufnahmen um 1950 herum aus der Oper 'Andrea Chenier' zeigen, dass Rudolf Schocks  primär lyrisch veranlagte Tenorstimme sich im 35-jährigen Alter schon stark in Richtung 'tenore drammatico' entwickelte. Die baritonale Klangfarbe seiner Stimme und die besondere Qualität seines höheren Mittenregisters boten dafür eine solide Basis.

'UN DI ALL'AZZURRO SPAZIO'
Cheniers Protestsong aus dem 1. Akt nimmt Rudolf Schock 1956 für Electrola auf: in deutscher Sprache und mit dem Dirigenten Wilhelm Schüchter.
Im Jahre 1985 wird aber deutlich, dass es eine noch ältere Aufnahme in italienischer Sprache gibt (auch mit Schüchter). Dann erscheinen nämlich - aus Anlass des 70. Geburtstages von Rudolf Schock - auf dem Acanta-Label acht LPs mit Schock, der in den Fünfzigern - eigentlich schon in den ausgehenden Vierzigern - in verschiedenen Rundfunkstudios allerhand glanzvolle Aufnahmen aus Opern und Operetten gemacht hatte. Darunter befand sich das Lied 'Un di all'azzurro spazio' aus 'Andrea Chenier, das Mai 1951 in Hamburg aufgenommen wurde.

Schock überzeugt ganz und gar in diesem verbalen (und vokalen) Angriff Cheniers auf den wohlhabenden Adel. Die deklamatorischen Texte/gesungenen Ausrufe sind mit Recht aufhetzend und Furcht einjagend, und die melodiösen, poetischen Teile möglichst sinnlich.

Auf der LP aus dem Jahre 1985 (Acanta 40.23 552) klingt diese besondere (m. E. auch kanonwürdige) Rundfunk-Aufnahme angenehm räumlich. Bei den späteren CD-Veröffentlichungen auf Gala ('Rudolf Schock - the Earliest Recordings' - GL 313) und Da-music ('Rudolf Schock, Ein Portrait' - CD 870 196-2), mitsamt im Upload auf YouTube ist die Räumlichkeit unnötig verstärkt worden. Müsste ich aber eine digitale Version wählen, präferierte ich die auf Da-music.
'Rudolf Schock, Ein Portrait' Da-music

'DEN BLICK HATT' ICH EINST ERHOBEN (Un di all'azzurro spazio)'
Die deutsche Version in italienischem Stil aus dem Jahre 1956 beeindruckt deklamatorisch auch. Schock's Stimme färbt deutlich baritonaler als 1951. Der Ton der Electrola-Aufnahme reicht aus, aber ist ein wenig 'trocken'. (Das war 1956 auch der Fall bei Electrolas Gesamtaufnahme des 'Meistersingers' von Wagner unter Rudolf Kempe mit Ferdinand Frantz, Elisabeth Grümmer und Rudolf Schock. In den VS scheint von dieser hochangesehenen 'Meistersinger' im Jahre 2010 eine tontechnisch stark verbesserte Version gemacht zu sein: Pristine Audio PACO 052).

Auf CD gibt es die Arie auf dem schon wieder 20 Jahre alten EMI 3 CD-Set 'Rudolf Schock - Portrait' - EMI CZS 7 67183 2 und auf CD 5 der rezenten 10 CD-Box 'Rudolf Schock, seine schönsten Lieder aus Oper, Operette und Film' - Membran/Documents 232541. Dazu ist sie im Internet auch als Musik-Download zu erhalten. 
EMI 3 CD-Set

'GLEICH EINEM FRÜHLINGSABEND (Come un bel di di Maggio)'
Diese Arie aus dem 4. Akt nimmt in 'Andres Chenier' so ungefähr dieselbe dramatisch wirkingsvolle Position wie 'E lucevan le stelle' in Puccinis 'Tosca' ein. Rudolf Schock sang sie am selben Tage als 'Den Blick hatt' ich einst erhoben', und zwar am 25. September 1956. Die Darstellung ist ebenso gut, und der Ton ebenso 'trocken'. Mitten in der Aufnahme aber kann man hören, dass 'geschnitten' wurde. An sich ist (und war) so etwas bei Schallplatten-Aufzeichnungen eine ganz normale Verhaltensweise, aber man muss es wohl so machen, dass der Zuhörer nichts davon mitkriegt.

Die ursprüngliche Aufnahme (je auf LP) ist von EMI nicht auf CD herausgebracht. Aber auf der 5. CD der unter 'Den Blick hatt' ich einst erhoben' genannte 10 CD-Box von Membran/Documents ist sie zu hören.

'VICINO A TE ...'
Die neuseeländische Sopranistin Joan Hammond (Maddalena) und der deutsche Tenor Rudolf Schock (Chenier) nehmen am 8. Mai 1950 in London das grosse Schlussduett aus 'Andrea Chenier' auf. Schock ist dann fast am Ende seines Engagements an der 'Royal Opera House Covent Garden' (siehe auch: 'RS singt Sir Arthur Bliss). Das Philharmonia Orchestra London steht unter der Leitung von Issay Dobrowen.

Joan Hammond (1912 - 1996)
Dame Joan Hammond
Joan Hammond studierte Gesang in London, Wien und Italien. Sie debütierte 1938 in London. Nach dem Krieg sang sie u.a. an den Opernhäusern von Wien, London (1948 mit Rudolf Schock in 'La Bohème' von Puccini) und Paris. Gastauftritte und Konzerte fanden in Sowjet-Russland und in Amerika statt. Nach einem Herzanfall im Jahre 1965 sang Joan Hammond nicht mehr. Als Gesangspädagogin arbeitete sie aber im Dienste der Musik weiter. Königin Elisabeth II erhob sie 1974 als 'Dame of the British Empire' in den Adelsstand.

Joan Hammond nahm 1950 mit Rudolf Schock für HMV (das spätere EMI) neben dem Finale aus 'Andrea Chenier' auch das sogenannte 'Kirschenduett (Suzel, buon di)' aus Mascagnis 'L'Amico Fritz' auf.

Issay Dobrowen (1891 - 1953)
Issay Dobrowen

Der gefeierte, russisch/norwegische Dirigent, Konzertpianist und Komponist Issay Dobrowen dirigierte über die ganze Welt: Von San Francisco bis New York, von Bulgarien bis Israel, von Moskau bis London. Eine feste Stellung als Dirigenten für eine längere Periode hatte er in Sofia, London und Oslo. Dobrowen nahm in den späten Dreissigern des vorigen Jhts. die norwegische Nationalität an.


Rudolf Schock und Joan Hammond im Schlussduett von 'Andrea Chenier'
Vor langer Zeit fand ich auf einem Rotterdamer Flohmarkt zwei brechbare Schallplatten (Umdr. 78!) mit dem 'Chenier'-Duett und dem 'Kirschenduett'. Die Schellackplatten rauschten um die Wette, aber die wunderschöne Musik bereitete mir eine Riesenfreude. Sie klang - wie sich im Laufe der Zeit herausstellte - auf den alten Platten tontechnisch dynamischer als auf den neuzeitlichen LPs und CDs.
Rudolf Schock in London
(Foto: 'Der Spiegel' 1950)
Die Aufnahme des Kirschenduetts aus Mascagnis Oper wurde von der Kritik während der ganzen Jahre in allen Tonarten gelobt: "... hier kann man die hohe lyrische Qualität des Tenors bewundern, das schöne, romantische Timbre, die Fähigkeit zur echten Mezzavoce und seine ausserordentliche Musikalität..." ('Fonoforum' zu Anfang der 90er Jahre anlässlich des damals neuen EMI-Rudolf Schock Portraits CZS 7 67183 2). In derselben Besprechung preist der begeisterte Kritiker Schock auch in 'Andrea Chenier': "Schock demonstriert seine Spannweite in Richtung dramatisches Fach beeindruckend".

Schock und Hammond singen das grosse Duett, das zugleich das Finale der Oper ist, mit versengender Leidenschaft. Im Schlussteil müssen sie all ihre stimmlich-dramatischen Reserven angreifen: inmitten der Klangexplosionen aus dem Orchester folgt eine lange angehaltene hohe Note der andren. Aber  - im Taumel des Anlaufs zum ekstatischen Höhepunkt: 'Viva la morte insiem (Es lebe der Tod - zusammen)!' - sieht der lyrische Tenor Rudolf Schock dennoch die Möglichkeit zur einem in die Seele schneidende Mezzavoce, womit Andrea Chenier den herannahenden Tod, als wäre dieser der Sonnenaufgang, willkommen heisst ('Ah, viene come l'aurora!').
Rudolf Schock singt Giordano, Mascagni, Puccini e.a.























Dieses Duett ist als Download zu haben. Weiter findet man es u.a. auf der CD 'Opera Heroes: Rudolf Schock' EMI 7243 5 6681125, dem 3 CD-Set EMI CZS 7 67183 2 und auf der 5. CD der 10 CD-Box von Membran/Documents (232541)

Krijn de Lege, 5.12.2011
Nächstes Mal: Rudolf Schock singt Michael Glinka und Alexander Dargomyschski.

(Gerne wünsche ich den geschätzten Lesern meiner Texte einen festlichen Dezembermonat und ein gesundes und glückliches 2012!) 

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