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New York 1886:
Enthüllung der
Freiheitsstatue
Es könnte für einige Leser eine Überraschung gewesen sein, dass Rudolf Schock während seiner langen Sängerlaufbahn oft klassische Lieder sang, in Oratorien und Messen oder sogar in 'zeitgenössischen' Opern von zum Beispiel Igor Strawinsky und Alban Berg auftrat. Selbst könnte es denkbar sein - gewiss in den Niederlanden - , dass viele nicht wissen, dass Schock zwischen 1936 und 1963 vor allem Opernsänger war. Die zahlreichen Opern-CDs mit Rudolf Schock, die man heutzutage bestellen kann, liefern hierfür einen zuverlässigen Beweis.
Dessenungeachtet bezeichnet mancher den Sänger immer wieder als einen
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Gordon Mac Rae und Shirley Jones in 'Oklahoma' (Rodgers)
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Bei näherer Betrachtung ist Schocks Abstecher ins amerikanische Musical eigentlicht nicht fremd. Im Laufe der Musikgeschichte entwickelt sich die Operette aus der Oper und das Musical aus der Operette. Und wieder gilt, dass es oft unmöglich zu definieren ist,was wohl oder nicht in welche Schublade passt. Die Grenzen zwischen den Gattungen sind vage, und die grauen Übergangszonen breit. Überdies bringen allerhand Kriterien uns ganz durcheinander: bald wäre die Zahl der Beteiligten in den verschiedenen Szenen entscheidend (grosse Zahl bedeutet Oper, kleine Zahl Operette), bald die satirischen Absichten (Operetten ohne Satire wären - wie manche Opern- und Operettenkenner urteilen - überhaupt bedeutungslos). Andere entscheiden auf der (häufig subjektiven) Grundlage des inhaltlich und/oder musikalisch hohen oder niedrigen Niveaus, und manche suchen die Lösung in den wohl oder nicht anwesenden, gesprochenen Dialogen. Ich bekomme den Eindruck, dass nicht selten die Zeit, in der ein musikdramatisches Werk entstanden ist, bei einer späteren Ordnung, also hinterher, bestimmend war. Bizets (für die Hauptrollen) katastrophal ausgehende Oper 'Carmen' ist bleibend zur Schublade der Opéra COMIQUE verurteilt worden. Millöckers 'Bettelstudent' macht inmitten 'offiziell' komischer Opern keine schlechte Figur, aber wird nach wie vor als 'Operette' eingestuft. Die Johann Strauss-Operetten 'Zigeunerbaron' und besonders 'Fledermaus' werden dagegen in der musikalischen Ausführungspraxis oft zum Opernrepertoire gerechnet.
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Carousel
(Rodgers)
Unausrottbar ist die Auffassung, dass Operetten und Musicals 'gute Laune' voraussetzen: die Hauptrollen in den späteren Operetten von Franz Lehár sind gar nicht gut gelaunt, weil sie ihre grosse Liebe aufgeben müssen und einsam zurückbleiben. Manche Opern aber kennen gerade wohl ein Happy-End. Die Operetten von Jacques Offenbach dürften - was mich betrifft - komische (oder satirische) Opern heissen, und eine 'Grosse Sünderin' (Operette von Künneke) hätte meine Erlaubnis, auf der grossen Opernbühne weiter sündigen zu dürfen. Die Operetten 'Im Weissen Rössl' (Benatzky) und 'Maske in Blau' (Raymond) sind eigentlich 'Musical Comedies' und vieles von Stolz, Kreuder u.a. kommt in die Nähe des (Film-)Musicals. Das Schicksal von Verdis Aida und ihrem Geliebten Radames gestaltet sich im Musical nicht milder, und dasselbe ist der Fall in der Musical-Erzählung über 'Miss Saigon', in der wir (nur was den Plot betrifft) mühelos Puccini's 'Madame Butterfly' wiedererkennen. Bernsteins berühmtes Musical ' West Side Story' ist eine moderne Version von Shakespeares Bühnenstück 'Romeo und Julia', und Sie wissen, wie traurig ihre Geschichte endet.
Kurz: Rudolf Schock hat dadurch, dass er aus amerikanischen Operetten und Musicals sang, seine künstlerischen Grenzen nicht überschritten. Und wenn wir trotzdem von Schocks 'Grenzen' reden, hoffe ich mit diesem Feuilleton deutlich zu machen, dass seiner Vielseitigkeit kaum Grenzen zu setzen sind. Gerade darum muss ich 'weiter, immer weiter' schreiben. Sehen Sie ein, wie lange Carl Zeller und sein 'Vogelhändler' noch auf sich warten lassen?
VON DER WIENER ZUR AMERIKANISCHEN OPERETTE
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Alles fängt mit dem irischen Cellospieler Victor Herbert (1859 - 1924) an. Der junge Herbert reist von Dublin nach Wien, heiratet dort eine österreichische Sängerin und wandert letzten Endes mit ihr, dem Cello und dem Vorhaben, 'Wiener' Operetten zu schreiben, nach New York aus. Im Jahre 1897 erntet seine Operette 'Serenade' viel Beifall. Darauf folgen u.a. 'Naughty Marietta' und 'The Red Mill', die natürlich in den Niederlanden steht.
Aus Wien kommt der in Südungarn geborene Pianist und Violinist Sigmund Romberg (1887 - 1951) , der zum Kreise Lehárs gehörte und von Richard Heuberger Musiktheorie-Stunden bekam. Zuerst arbeitet er für den amerikanischen Markt einige Wiener Operetten um: Aus Walter Kollos 'Wie einst im Mai' wird 'Maytime' (1917) und aus Schubert-Bertés 'Dreimäderlhaus' entsteht 'Blossom Time' (1921). Aber dann gibt es 1924 'The Student Prince', die eigene Operettenbearbeitung des Studentenstücks 'Alt-Heidelberg' von Meyer-Förster, woraus ein dynamisches Trinklied später zum Welterfolg des Tenors Mario Lanza werden sollte. Es dauert nur zwei Jahre, bevor der Siegeszug des Studentenprinzen von einem neuen Romberg-Erfolg übertönt wird, und zwar vom 'Desert Song' . 'Das Lied der Wüste' spielt sich im marokkanischen Rif-Gebirge ab und wird nach einem Libretto von Oscar Hammerstein dem Zweiten (1895 - 1960) zum Klingen gebracht.
Rudolf Friml & (rechts)
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Oscar Hammerstein der Erste (1848 - 1919, in Stettin geboren und der Grossvater Hammersteins des Zweiten) schreibt die Texte für eine andere, berühmt gewordene Operette, die 1924 in Premiere geht und von einer dritten Größe aus der amerikanischen Operettenwelt in reizendeTöne gesetzt wird: Rudolf Friml (1879 - 1972). Dieser Prager Klavierspieler komponiert zuerst Klavierkonzerte, aber wirft sich dann auf das Schreiben von Operetten nach ''leidenschaftlichen Büchern''. Und so entsteht u.a. ' Rose Marie' von Friml/Hammerstein 1, eine Geschichte über Liebe, Mord und Totschlag in den kanadischen Bergen und mit Songs, die angefangen haben zum Weltrepertoire zu gehören ('Oh, Rose Marie, I love you' und 'Indian Love Call').
VON DER OPERETTE ZUM (FILM-)MUSICAL
Wüstensand in Marokko, Romantik in Kanada, Studentenfreud und -leid im europäischen Heidelberg machen jetzt der amerikanischen Wirklichkeit Platz, und das reichhaltige Musikidiom des Jazz vergrössert die Ausdrucksmöglichkeiten neuer Komponisten wie Jerome Kern (1885 - 1945), Irving Berlin (1888 - 1989) und George Gershwin (1898 - 1937).
Um das amerikanische Musikdrama literarisch auf ein höheres Niveau zu bringen, melden sich junge, vielversprechende Textbuch-Autoren. Neben den inhaltlich oberflächlicheren 'Musical Comedies', die in der europäischen Tradition wurzeln, blühen in der Neuen Welt 'Musical Plays', realistische Dramen ohne Sentimentalität auf. Bernhard Grun vertritt in seiner begeistert verfassten 'Kulturgeschichte der Operette' sogar die Meinung, dass aus den 'Musical Plays' "die Endform der Operette gestaltet" wurde.
Israel Baline, in Siberien geboren, flieht in vierjährigem Alter zusammen mit
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Im Jahre 1927 wagt Jerome Kern den entscheidenden Schritt zum 'Musical
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Der Autodidakt George Gershwin verbucht 1919 seinen ersten (Platten-)Erfolg mit 'Swanee' (von Al Jolson gesungen). Mehr als zwei Millionen Schallplatten von Gershwins (und Jolsons) 'Swanee' werden verkauft.
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Im selben Jahr (1928) geht auch der Film 'The Singing Fool' mit dem sogenannten 'Negersänger' Al Jolson als dem 'Singenden Narren' in Premiere.
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Poster
Al Jolson
Al Jolson (1886 - 1950) ist in diesem Moment ein gefeierter Star durch seine Filmrolle in 'The Jazz Singer' (1927), der - mit Musik von Irving Berlin - als allererster Tonfilm in die Geschichte hineingeht.
In 'The Singing Fool' wird Jolson von seiner Frau verlassen, die ihren dreijährigen Sohn ('Sonny Boy') mitnimmt. Der zurückbleibende Sänger singt einen schmerzlichen Foxtrott, der - wie sentimental auch - den Zuschauer überwältigt. Die Musik dieses herzzerreissenden 'Sonny Boy' ist von Lew Brown und Ray Henderson, und die Worte sind von Buddy G. DeSylva. Al Jolson besteht darauf, dass sein Name den drei anderen hinzugefügt wird. Ich glaube, dass Paul Abraham an Al Jolson gedacht haben muss, als er seinem Publikum in der Operette 'Die Blume von Hawai' (1931) 'den (echten) Negersänger Jim Boy' mit dem Song 'Bin nur ein Jonny' vorstellte.
EIN ERFOLG NACH DEM ANDERN!
Der Siegeszug des Musicals zieht weiter:
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Der Komponist Richard Rodgers (1902 - 1979) arbeitet zuerst mit dem Textdichter Lorenz Hart zusammen (u.a. 'Pal Joey' 1941 und das Lied 'With a Song in my Heart'). Lorenz Hart wird krank und stirbt. Rodgers sucht Kontakt mit 'Showboat'-Textdichter Oscar Hammerstein dem Zweiten. Ein Erfolg folgt jetzt dem andern: 1943 erscheint das 'Musical Play' 'Oklahoma' mit u.a dem Duett 'People will say, we're in love', 1945 'Carousel' mit u.a. 'You'll never walk alone', 1949 'South Pacific' und 1959 'The Sound of Music'.
Das Komponisten- und Textdichterduo Robert Wright (1914 - 2005) und George Forrest (1915 - 1999) ernten viel Erfolg mit 'Song of Norway' (1944), wofür sie sich übrigens die Musik von Edward Grieg 'leihen'.
Cole Porter (1891 - 1964) macht seine eigene Musik und die eigenen Texte.
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Komponist Frederick Loewe (1901 - 1988) bildet mit Textdichter Alan Jay Lerner (1918 - 1986) das x-te bedeutungsvolle Musical-Duo. Es erzielt 1947 seinen ersten Erfolg mit dem schottischen Märchenmusical 'Brigadoon'. Loewe wird in Berlin geboren und tritt schon im Alter von 13 Jahren als Pianist zusammen mit dem Berliner Philharmoniker auf. Musikstunden bekommt er von Busoni, Von Reznicek und d'Albert. Im Jahre 1924 wandert er nach Amerika aus. Anfangs halten amerikanische Musikproduzenten ihn für 'zu wienerisch', aber dann begegnet er Alan Jay Lerner und fängt ihre Zusammenarbeit an. 'Brigadoon' wird 1947 zum 'Besten Musical-Drama' ausgerufen. 1951 erscheint 'Paint your Wagon' und dann - im Jahre 1956 - das Musical, das wie eine Bombe am Broadway einschlägt: 'My Fair Lady', nach Bernard Shaws 'Pygmalion'. In den Jahren 1958 und 1960 gehen schliesslich noch 'Gigi' (als Filmmusical) und 'Camelot' in Premiere. Danach komponiert Frederick Loewe nichts mehr. Mit dem späteren, nach dem Film aus 1958 geschriebenen Musical 'Gigi' (1974) lässt er sich nicht mehr ein. Lerners Versuche, ihn dazu zu überreden, scheitern.
Die Erfolgsgeschichte des Musicals dauert bis zum heutigen Tag an. Immer wieder wurden Werke geschrieben, die sich als Welterfolge entpuppten: 'Oliver' von Lionel Hart, 'Cabaret' von John Kander, 'Cats' usw. von Andrew Lloyd Webber, um einige zu nennen. Einen Riesenwelterfolg habe ich aber noch nicht genannt. Er muss sofort in den Vordergrund gerückt werden: 'West Side Story' aus dem Jahre 1957!
Dirigent, Pianist únd Komponist LEONARD BERNSTEIN (1918 - 1990)
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'The Musical Play' 'WEST SIDE STORY' verlegt die Handlung von
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RUDOLF SCHOCK SINGT LEONARD BERNSTEIN U.A.
Wie ich am Anfang dieses Aufsatzes schon schrieb, könnte man um Rudolf Schock eine Doppel-CD mit Musik aus amerikanischen Operetten und Musicals zusammenstellen. Zugleich könnte diese CD als auditive Illustration für die Entwicklungsgeschichte des amerikanischen 'Musical-Dramas' dienen:
RUDOLF SCHOCK
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SINGT
AUS AMERIKANISCHEN
OPERETTEN & (FILM-)MUSICALS
Romberg, Friml, Berlin, Kern, Porter
Brown/Henderson, Wright/Forrest
Rodgers, Loewe, Bernstein
EXTRA:
LEONARD BERNSTEIN DIRIGIERT GERSHWIN
mit den folgenden Tracks:
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Weil Alleskönner Leonard Bernstein in dieser Schock-Kompilation nur als Komponist vertreten ist, schien es mir angemessen, ihn auch als George Gershwin-Dirigenten (únd Pianisten in 'Rhapsody in Blue'!) aufzunehmen. Gershwins Musik spritzt fast buchstäblich aus den Rillen. Es ist ein komplettes Feuerwerk, und ich frage mich, warum ich jene alte 25 Cm-LP
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Mehrere Male ist die kosmopolitische Sopranistin Anna Moffo (1933 - 2007) zu hören, die im Frühling des Jahres 1971 mit Rudolf Schock, der sich kurz davor von einer Herzattacke erholt hat, eine LP mit deutschsprachiger Operette und eine LP (Eurodisc 85 110 TE) mit Musik aus amerikanischen Operetten und Musicals aufnimmt. Einer von Schocks festen Dirigenten Werner Eisbrenner (1908 - 1981) dirigiert den Berliner Symphoniker in diesen Moffo/Schock-Duetten.
Das Duett mit der Sopranistin Erika Köth aus 'Carousel' von Rodgers/Hammerstein dem Zweiten ('Tausend Sterne' auf Englisch: 'If I Loved You') wurde mir vom Schockspezialisten Herrn Ludwig Stumpff zugeschickt, wofür auch hier tausendmal Dank! Dieses Duett war in den Sechzigern und als musikalischer Wunsch im Jahre 2003 im Fernsehen zu hören.
Die ältesten Aufnahmen aus 'Rose Marie' und von 'Heimweh' sind auf CD erhältlich (Membran-Documents).
Die neueren'Aufnahmen + 'Sonny Boy' standen auf LPs mit den Nummern Eurodisc 88 957 OE ('Rose Marie') und Eurodisc 88 955 OE ('Heimweh' und 'Sonny Boy').
Die Herkunft des Liedes 'Ich erinnere mich gern' ist wissenswert. Es ist eine der letzten Schallplatten-Aufnahmen von Rudolf Schock und wird als eine Art von autobiographischer Einleitung für eine grosse Fernseh-Show (ZDF 1983) gesungen, worin der zurückblickende Sänger selber im Mittelpunkt steht. Die Show trägt denn auch den Titel: 'Ich erinnere mich gern'. Die Melodie dieses Liedes wurde von Frederick Loewe komponiert und in seinem Filmmusical 'Gigi' aus dem Jahre 1958 gesungen. In diesem Musical spielten und sangen die junge Filmschauspielerin Leslie Caron und der
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DIE AUFNAHMEN AUS AMERKANISCHEN 'MUSICAL-DRAMAS'
stammen aus verschiedenen Perioden von Schocks Laufbahn. Die 'Serenade' (Romberg), die Ende 1978 unter Fried Walter (1907 - 1996) aufgenommen wurde, klingt selbstverständlich vokal nicht mehr so bezaubernd schön wie die beiden 'Rose Marie'-Songs aus dem Jahre 1950, aber sie hat Augenblicke, worin Schock doch das Herz berührt. Das geschieht auch in 'Maria!' aus 'West Side Story' (1971). Mit allem Gefühl für Drama, woran er so reich ist, wirft sich Schock in Tonys Lied und schafft damit die tiefgefühlte Emotion, woraus sich das darauf folgende Feuertreppenduett entwickelt. Anna Moffo's Stimme färbt warm und angenehm dunkel. Es ist eine extra Attraktion, dass Moffo und Schock die Operetten- und Musicalszenen in englischer Sprache darstellen. Schock singt äusserst konzentriert und die baritonale Stimmfarbe eignet sich ideal für diese Musikgattung. Eine an und für sich anspruchslose Melodie wie 'True Love' erfährt durch solche erfahrenen Stimmen ein betäubendes Facelifting.
(PM: Ich erinnere daran, dass Schock 1949 von Irving Berlins 'Heimweh' auch die ursprüngliche amarikanische Version 'Always' aufnahm. Im Jahre 2012 kam sie auf CD heraus. Auch in deutscher Sprache halte ich aber 'Heimweh' für ein eindrucksvolles Lied, und gewiss auf die einfühlsame und doch nicht sentimentale Weise, wie Schock es singt. 1966 ist seine Darstellung noch durchdachter. Er führt in solchen Liedern (Chansons u.d.) ein natürliches und ehrliches Sentiment, womit er auch in einer 'Halbschnulze' wie 'Sonny Boy' den Hörer überzeugt. Er schluchzt nicht á la Jolson auf, aber lässt in aller Einfachheit hören, dass der Tenor Rudolf Schock für so ein Lied ein mindestens ebenso beseelter Darsteller ist).
Krijn de Lege, 2008/2014