Mit anderen Worten: Rudolf Schock singt 'kontemporäre Musik', 'zeitgenössische' Musik. Anno 2008 sind diese Adjektive natürlich längst überholt. Denn wir reden von Musik aus dem 20. oder vorigen Jahrhundert: 'klassische' Musik, die damals komponiert wurde. Aber das Wort 'klassisch' ist ein Containerbegriff. Es kann u.a. Musik 'mit Dauerwert' bedeuten, oder Musik 'in der Art der Klassik', oder 'ernste' Musik, und namentlich das Wort 'ernst' stimmt auch wieder nicht, weil eine Menge 'klassische' Musik gerade fröhlich und heiter ist. Ich schlage also vor, dass wir alle Wortprobleme, Definitionen und Klassifizierungen ruhenlassen. Nehmen wir als Ausgangspunkt, was die deutsche Qualitätswochenzeitung 'Die Zeit ' 2005 online über Rudolf Schock schreibt: " Egal nämlich, was er singt: Schock entwickelt das Material nicht ins Exzentrische, sondern rückt alles Fremde und Bizarre so leicht zurecht, als sei es ganz selbstverständlich. Er präsentiert es dabei jeweils mit einer Staunen machenden Unvoreingenommenheit. Es ist, als eigne er sich die Rolle oder das Lied prima vista perfekt an - eine Art von Naturwunder, wenn man so will". Wir hören also ganz einfach zu, und das 'Naturwunder' singt. In diesem Falle in der Oper 'LULU' von Alban Berg.
Über Schocks Verhältnis zur 'zeitgenössischen Musik' schreibt Gerald Köhler in 'Rudolf Schock & Die Roelens'(Theaterwissenschaftliche Sammlung der universität zu Köln, 2005): "Musikalische Moderne blieb Rudolf Schock - im Gegensatz zu Fritz Wunderlich - fremd, obwohl er gewichtige Partien in ... (Köhler nennt drei moderne Opern) sang".
Ich zweifle daran, ob Köhler recht hat, wenn ich mir die beachtlich längere Liste ansehe, worin ich Schocks Auftritte in (mehr oder weniger) neuer Musik des 20. Jhts aufgezählt habe. Er ging mit der 'musikalischen Moderne' genauso wie mit Verdi, Mozart, Beethoven, Schubert, Lehár, Strauss (J. und R.), Wolf usw. um, und zwar in der Weise, wie 'Die Zeit' so treffend formuliert: er näherte sich jeder Art der Musik ganz offen und mit unbefangener Natürlichkeit an.
In einem Fernsehgespräch (1973) hält er sich allerdings ein Hintertürchen offen: er habe nichts gegen moderne Opern, aber sei wohl der Meinung, man solle nicht alles singen wollen. Er sei ziemlich 'wählerisch' mit moderner Musik umgegangen. Glaubhaft ist denn auch, dass seine wählerische Art besonders das experimentelle Werk betraf.
Rolf Liebermann 1954 |
In seiner Biographie lässt Schock Rolf Ulrici die folgende Anekdote notieren: Im Jahre 1954 singt er in Salzburg in der Weltpremiere von Rolf Liebermanns neuer Oper 'Penelope'. Auf die Frage des Komponisten während einer Probe, ob die Oper ihm gefalle, erwidert Schock, das Duett, das er singen dürfe, sei schön, und die Musik eigne sich sehr für die Stimme. Er fügt aber einen kleinen, etwas ungeschickten Scherz hinzu: "Allerdings mit einigen Akkorden Puccini würde es noch viel schöner klingen". Liebermann schwieg und sah Schock "gross an". Schock gerät ins Philosophieren darüber: Er ist sich darüber im klaren, zu weit gegangen zu sein, aber findet zugleich, die Musikkritik messe mit zweierlei Mass. Über Musik, die ein breites Publikum anspricht, dürfe man offensichtlich allerhand hässliche Dinge sagen, aber die Musik, die sich vom traditionellen Genre distanziert, solle man völlig in Ruhe lassen. Viele Werke, die nach der Premiere über alle Massen gelobt wurden, "fristen ihre Existenz in Archiven und leben in akademischen Schriften weiter". Aufgeführt werden solche Werke meistens nie mehr.
Etwas weiter in der Biographie betont Schock, dies gelte nicht für Alban Bergs 'Lulu'. Trotz seiner Vorbehalte gegen diese Art von Musik, stellt er bei sichselbst fest, dass er sich in dieser Oper "ganz in seinem Element fühlte", und es war ihm "seltsamerweise, als hörte (er) ab und zu Mozart durchklingen".
Meine längere, möglicherweise nicht einmal vollständige Liste mit 'Rudolf Schock in der Welt der mehr oder weniger experimentellen Modernen Musik' ist ebenso überraschend wie die Reihe seiner Auftritte in Oratorien (siehe meinen Juni 2008-Beitrag über die 'Missa Solemnis'):
- Schock sang von Ferruccio Busoni die Rolle des Cavaliere Leandro in der Oper 'Arlecchino'(aus dem Jahre 1917). Diese kurze Oper wurde 1946 im gleichen Programm mit Puccinis 'Il Tabarro' (1913) ausgeführt. Schock war in der Puccini-Oper wahrscheinlich als Luigi zu hören. Er sang 1944 diese Rolle auch schon, aber aus mir unbekannten Gründen wurde Luigi damals Henri genannt. Busoni gehört zur 'frühen Modernität', zusammen mit Schönberg UND Richard Strauss.
- von Richard Strauss: den 'Sänger' in 'Der Rosenkavalier' (1905), Narraboth in 'Salomé' (1911), Bacchus in 'Ariadne auf Naxos' (1916), Flamand in 'Capriccio' (1942) und eine Reihe von Liedern. Davon sind 'Capriccio' und (mannigfach) 'Ariadne auf Naxos' auf CD (Emi, DGG, Walhall) erhältlich.
- von Erich Wolfgang Korngold: aus 'Die tote Stadt' (1920) Duett und Finale, sowohl im Aufnahmestudio (Emi) als auch live,
- von Carl Orff: 'Catulli Carmina' (1942).
- Auch auf der 'leichten' Seite des musikalischen Spektrums wurde neue Musik komponiert, die von Rudolf Schock gesungen wurde: Operetten von Juri Miljutin und Johannes Müller (einige Fragmente auf CDs vom Membran-Label). Weiter Filmmusik vom russischen Komponisten Isaak Dunajewski (1900-1955), der in der Stalinzeit eine Blitzkarriere machte. Er komponierte u.a. die Musik für den Film 'Wesna' (= Frühling), dessen deutsche Fassung 1947 in Berlin Premiere hatte. Der Dirigent Werner Eisbrenner nahm für diese Filmfassung mit u.a. Rudolf Schock einige von Reinhard W. Noack übersetzte Lieder auf. Während der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2005 wurde der Film 'Wesna' von Regisseur Grigori Alexandrow noch einmal vorgeführt.
- vom späteren Kirchenmusik-Komponisten Ernst Pepping: 'Haus- und Trostbuch für Singstimme und Klavier' (1946). In diesem Sammelband stehen 42 Gedichte auf Texten von Brentano, Goethe, Bergengruen, Eichendorff, F.G. Jünger, Claudius, Herder, Nietzsche, Dante u.a. Die Uraufführung (eine Teilaufführung) ist in Berlin am 27. Februar 1949. Rudolf Schock und die Altistin Johanna Blatter singen. Adolf Stauch (wer könnte es anders sein!) begleitet. Seit September 2009 gibt es 2 Lieder aus diesem Live-Konzert auf CD (4-CD-Box 'Kammersänger Rudolf Schock' - Gala und 10-CD-Box 'Rudolf Schock, Nachklang einer geliebten Stimme' - Membran/Documents). Schock singt diese beiden Lieder auf Texte von Eichendorff und Goethe. Pepping betrachtet dieses 'Haus- und Trostbuch' als " ...das grösste und gewichtigste meiner Liederwerke...". Nach Hugo Wolf sei - nach Aussage Peppings - nie mehr so eine umfangreiche und gewichtige Liedersammlung verfasst worden. Über Rudolf Schock schreibt Ernst Pepping in einem Brief vom 26. März 1948: "....ich bin jetzt soweit, die, wir mir scheint, zweckentsprechendsten Interpreten aufgefunden (...) zu haben. Es sind (vorläufig im Vertrauen mitgeteilt) Schock (Tenor der Staatsoper), in dessen Stimme ich verliebt bin (hoffentlich findet er auch die Zeit für das Studium, er ist ein 'Star', aber noch nicht gänzlich verdorben, ausserdem ein netter Kerl) und Pia Coursavé.....". Offensichtlich fand Pia Coursavé die Zeit für das Studium nicht. Johanna Blatter nahm ihren Platz ein.
- von Arthus Bliss: 'The Olympians' (1949). In der ersten Reihe von Vorstellungen sang Schock 1949 an der Covent Garden Oper in London (danach auch in Birmingham) die Rolle des Hektors. Die BBC-Aufnahme scheint zu existieren, aber bis auf heute ist sie nicht auf Schallplatte oder CD veröffentlicht worden.
- von Igor Strawinsky: 'The Rake's Progress' (1951). In dieser 'Karriere eines Wüstlings' sang Rudolf Schock die Titelrolle (Tom Rakewell) von Oktober 1951 an in Hamburg, Wien und Berlin. Leider scheint es von keiner der Ausführungen eine Aufnahme zu geben.
R. Schock (oben)in 'The Rake'sProgress'
- von Hans Ebert: 'Fünf Chinesische Lieder'(um 1950 herum?). Die Texte sind sehr wahrscheinlich von Hans Bethge, der orientalische Poesie ins Deutsche nachdichtete. Auch Richard Strauss und Franz Lehár ('Von Apfelblüten einen Kranz'!) benutzten Bethges Nachdichtungen. Die fünf Chinesischen Lieder sind 2005 vom RELIEF-Label zum allerersten Mal auf CD veröffentlicht worden. Schock wird am Klavier von Herbert Heinemann begleitet. Die Aufnahmen sind Mai 1951 gemacht worden, ein Jahr vor Eberts Tod.
- von Rolf Liebermann: 'Penelope'(1954). Rudolf Schock sang in Salzburg die Rolle des Ercole in der Weltpremiere vom Jahre 1954. Diese Premiere wurde vom Orfeo-Label auf CD festgehalten.
- und von ALBAN BERG: 'LULU' (1935).
Berg (l) und Schönberg (r)
Der Komponist Alban Berg wird als wichtigster Vertreter der sogenannten 'Zwölftonmusik' betrachtet. Die Grundlage für diese neuartige Musik wird um 1925 herum von Arnold Schönberg (1874 - 1951) geschaffen. Berg ist sein prominentester Schüler. Interessant ist es, zu wissen, dass Schönberg die künstlerische Laufbahn als Arrangeur von Schlagern und Operetten anfing und nach seiner Zwölftonperiode wieder zur traditionelleren Komponierweise zurückkehrte. Die Zwölfton-Technik geht von einer Komponiermethode mit Hilfe von '12 nur aufeinander bezogenen Tönen' aus. Das 'normale' Komponieren geht von 7 Tönen aus, die zusammen eine Tonleiter bilden. Der erste und zentrale Ton dieser Leiter heisst der Grundton. Alle anderen Töne sind auf diesen Grundton bezogen, bewegen sich also gleichsam auf ihn zu. Die Folge ist, dass der Zuhörer die Erfahrung hat, dass ein Musikstück 'stimmt'. Bei der 12-Tonmethode gibt es keine zentrale (Grund)tonalität, und ist also keine Bewegung zum Grundton möglich, und die Folge ist, dass für manchen Zuhörer die Musik 'nicht stimmt', nicht harmonisch und nicht zugänglich ist.
Alban Berg geht in seinen beiden Opern ziemlich frei mit Schönbergs 12 Tönen um. Z. B. biegt er sie zu thematischen Formen für bestimmte Instrumente um, die sich an den verschiedenen Theaterpersonen festsetzen, wodurch doch Formen zentraler Tonalität entstehen. Sie erinnern an 'Leitmotive', musikalisch-hamonische (!) 'Bewegungen', die vor allem Richard Wagner anwendete, um Personen oder Ereignisse aus seinen Opern zu charakterisieren. In 'Lulu' gehört z. B. das Klavier dem Zirkusartisten und das Saxophon der Alwa-Rolle, die Schock singt, an. Und es gibt mehr, wodurch diese Oper trotz der neuen Tonsprache dem Zuhörer relativ vertraut ins Ohr geht.
Was die Themen seiner Opern betrifft, ist Berg auch nicht so geradlinig. Schönberg kann sich schwierig damit einverstanden erklären, dass sein Schüler (und späterer Freund) in 'Lulu' das 'erhabene Phänomen Oper' einer 'Halb-Welt' von Schmarotzern, Prostituierten und mangelhaften Künstlern widmet. Über Bergs erste Oper 'Wozzeck', worin die Tragik der weiterschreitenden Auflösung einer Unterklasse in bezug zur Gesellschaft dargestellt wird, äussert sich Schönberg positiver: "Das ist eine Szene aus dem Alltagsleben. Eigentlich unvereinbar mit 'dem Phänomen Oper', aber welch ein Wagestück!".
Frank
Wedekind (1918)
DIE OPER 'LULU' gründet auf einem Schauspiel von FRANK WEDEKIND (1864 - 1918), in dessen Kindertragödie 'Frühlings Erwachen' ich mich recht gut auskenne (1999 durfte ich dieses Schaupiel einige Male mit Schülern und Lehrern ausführen). Über 'Frühlings Erwachen' habe ich oft sagen hören, dass die sexuelle Freiheit, die von Wedekind als selbstverständlich vorgestellt sein sollte, in unserer modernen Zeit nicht mehr erschüttern könnte. Das wage ich zu bezweifeln: Auf jeden Fall lösten in dieser Hinsicht Wedekinds Auffassungen im Jahre 1999 bei Schülern und beim Publikum noch allerhand aus. Aber Wedekind hat mehr zu melden: Egoismus ist - nach Wedekinds Meinung - der Pfeiler, auf der die Gesellschaft stützt. Egoismus ist die Triebfeder des Menschen, auch wenn er gut tut. "Keiner wird eine Wohltat vollführen, wenn er sie innerlich nicht geniessen kann". Er setzt voraus, dass es zwei Menschentypen gibt, ein jeder mit eigenen Idealen. Auf der einen Seite gibt es die 'sozial Beseelten', Rufer in der Wüste ("die meisten sind Dichter/Schriftsteller"). Sie projizieren ihre Ideale als göttliche Wahrheiten unmittelbar in den Himmel. Mit der irdischen Wirklichkeit haben sie nicht soviel Kontakt. Auf der anderen Seite stehen die 'praktischen Menschen'. Sie gehen von den vorhandenen Lebensumständen aus und versuchen darin für sichselbst eine gewisse Vollkommenheit zu konstruieren. Wedekind modelliert in 'Lulu' die Figuren nach 'dem Benehmen der Menschen und Tiere im Zirkus. Ihr Leben ist eine Zirkusnummer, die sie gut oder schlecht vollbringen". Wedekinds 'Lulu' erscheint in zwei Teilen: im Jahre 1895 veröffentlicht er 'Erdgeist', 1902 'Die Büchse der Pandora'.
Die HANDLUNG
von Wedekinds Schauspiel und von Bergs Oper unterscheiden sich im 1. und 2. Akt kaum. Nur im 3. Akt der Oper hat Alban Berg, der selber das Libretto für 'Lulu' verfasst, einige vielsagende Kunstgriffe angewendet, oder besser gesagt: anwenden WOLLEN. Berg stirbt nämlich 1935 während der Arbeit am 3. Akt, aber er lässt genug Material zurück, um eine solche Schlussfolgerung zu ziehen.
Chefredakteur/Zeitungsverleger Dr. Schön rettet Lulu aus der Gosse. Er nimmt sie bei sich auf, gibt Kleidung, Essen und er erzieht sie (in seiner uneigennützigen Güte?). Lulu vertraut sich Schön ganz an. Dieses 'positive Trauma' wird zur Identität der Lulu. Schön kann sich aber keine Heirat mit Lulu leisten. Er hat zuviel zu verlieren in der Gesellschaft, wo er ein mächtiger Mann ist. Er beabsichtigt sogar, ein adliges Mädchen zu heiraten. Körperlicher und geistiger Genuss dürfen die steile Karriere nicht im Wege stehen. Lulu bekommt noch mehr Geschenke von ihm: zwei Gatten nacheinander! Der erste, ein Arzt, hat zur sexuellen Beziehung gar nicht den Mut. Der zweite, ein Maler, wagt es nicht, sie zu berühren. Bühnenautor Alwa Schön, Sohn des Chefredakteurs, zweifelt dauernd zwischen der Liebe und der Kunst. Endlich gelingt es Lulu doch, mit ihrer grossen Liebe, Dr. Schön zu heiraten. Lulus Priorität ist die totale Liebe, geistig und körperlich, aber Schöns Priorität ist die der Effektenbörse. Lulu gibt sich jetzt einem jeden. Schön ertappt sie auf frischer Tat, und er ist dermassen durchgedreht, dass er fordert, dass Lulu Selbstmord verübt. Aber mit der Waffe, die sie von Schön in die Hand gedrückt bekommt, erschiesst Lulu ihren Wohltäter. Sie will nur überleben und 'tut, was sie tun muss'. In einem Intermezzo wird ein Film (!) vorgeführt, in dem die Zuschauer Lulus Verhaftung, die Verurteilung und ihren Aufenthalt im Gefängnis erleben. In der 2. Szene des zweiten Aktes planen Alwa, Lulus Vater und ihre Verehrer, unter denen die Gräfin Geschwitz, Lulu zu befreien. Der Plan gelingt dadurch, dass die Gräfin nach einem Kleidungsaustausch Lulus Platz im Gefängnis einnimmt. Der 2. Akt der Oper endet mit dem grossen Duett Lulu-Alwa. Alwa erklärt ihr seine Liebe. Er willigt in eine Abreise mit Lulu ein.
In zweitem Teil von Wedekinds 'Lulu', der mit dem 3. Akt von Bergs Oper zusammenfällt, lebt Lulu mit Alwa in Paris und London in Begleitung ihrer Freundin: der Gräfin Geschwitz, ihres opportunistischen Vaters. Lulu gibt sich nach wie vor den Männern, die sie umkreisen. Unter ihnen sind 'ein Professor' und 'ein Neger', die (und hier weicht Alban Berg von Frank Wedekind ab) von denselben Sängern gespielt werden, die im 1. Akt bezw. 'der Arzt' und 'der Maler' waren. Aber etwas hat sich wesentlich geändert. In den ersten beiden Akten nutzt Lulu die Männer aus. Im 3. Akt nutzen die Männer Lulu aus. Alwa wird von einem ermordet. Lulu ist total verarmt. Es bleibt ihr nichts andres übrig, als neue Männer zu finden, um Geld aufzutreiben. An Selbstmord kann sie nicht denken. Wohl an ihren Wunschtraum in die Hände eines Lustmörders zu fallen. Und dieser Traum wird Wirlichkeit: ihr letzter Kunde ist Jack the Ripper... (es ist Bergs Absicht, Jacks Rolle vom selben Sänger spielen zu lassen, der Dr. Schön spielt). So scheint Berg noch einmal einen Gedanken hinter Wedekinds Lulu-Tragödie unterstreichen zu wollen: das Einwechselbare von Menschen, die entweder zu den 'sozial Beseelten' (Alwa, die Gräfin), oder zu den 'praktischen' Leuten gehören (Lulu selber, ihr Vater, Dr. Schön/Jack the Ripper). Lulu soll nicht zum Klischee einer 'Femme fatale' reduziert werden. Die gefühlskalte Logik des 'schönen, wilden, wahren Tieres' (Wedekind) ist viel eher mit jener des Kindermörders in Fritz Langs berühmtem Film 'M - eine Stadt sucht einen Mörder' verwandt. Die Entschuldigung, die der Mörder (von Peter Lorre unvergesslich dargestellt) fassungslos stammelt, wenn er nahe daran ist, gelyncht zu werden, spricht Bände: "Aber...ich kann doch nichts dafür".
Über Bergs MUSIKALISCHE DARSTELLUNG noch einige Bemerkungen: Den Eindruck hat es immer gegeben, Alban Bergs Sympathie liege bei der Figur von Alwa. Der Gedanke taucht sogar auf, er habe sichselbst in Alwa porträtiert. Berg widmet besonders ihm 'alle reine Musik', eine Mischung aus drastischer Expression und Wehmut. Für die ganze Oper gilt, dass sie einen ironischen, dreizehnten Ton bietet, der zugleich relativierende Wirkung hat: Hier und da scheinen Brecht und Weill über Bergs Schulter mitzugucken. Klangfarben erinnern an ihre 'Dreigroschenoper'(1928). Der Prolog-mit-Tierbändiger-im-Zirkus tut das auch, aber noch deutlicher verweist er zum populären Prolog von Leoncavallos realistischer Oper 'Bajazzo'. Aus alten, italienischen Opern rühren Hinweise wie 'Duettino', 'Arietta' und 'Canzonetta' her, die mit 12-Tonmusik nichts zu tun haben, aber prima zur Öffnungszeile von Alwas Rezitativ aus dem 1. Akt passen: "Über die (Lulu) liesse sich freilich eine interessante Oper schreiben!" Und dann und wann lebt sogar Operetten-Atmosphäre auf!
ÜBER DEN DRITTEN AKT, DER DOCH NOCH VOLLENDET WURDE:
Friedrich Cerha rekonstruierte den 3. Akt.
Alban Berg arbeitet von 1928 bis zu seinem Tode im Jahre 1935 an 'Lulu'. Der 3. Akt ist eigentlich fertig, aber von den 1326 Takten sind nur 390 instrumentiert worden. Im Nachlass befindet sich ausreichendes Material, um eine Rekonstruktion zu ermöglichen. Bergs Witwe Helene hofft darauf, dass Schönberg oder andere Zwölfton-Komponisten 'Lulu' vollenden werden, aber keiner von ihnen macht das. Am 2. Juni 1937 ist die Premiere von 'Lulu' in Zürich, d.h. man führt den 1. und 2. Akt aus und fügt noch etwas symphonisches Werk von Berg hinzu. Auch nach dem Krieg werden von 'Lulu' mit einer gewissen Regelmässigkeit 'amputierte Ausführungen' (Pierre Boulez) produziert. Im Laufe der sechziger Jahre wächst 'Lulu' allmählich zur am meisten aufgeführten Opern-Komposition des 20. Jhts aus. Erst am 9. Juni 1962 findet im Rahmen der 'Wiener Festwochen' im Theater an der Wien die allererste Wiener 'Lulu'-Ausführung statt. Diese Ausführung ist erfolgreich, aber noch immer handelt es sich um den 1. und 2. Akt.
Im selben Jahr beginnt FRIEDRICH CERHA (1926 - ) mit der Rekonstruktion des 3. Aktes. Er arbeitet bis 1978 daran. Am 24. Februar 1979 findet in Paris endlich die Premiere des vollständigen Werkes statt. Anderthalb Jahre später habe ich das Vergnügen, in Rotterdam die ganze Oper zu sehen und zu hören. Teresa Stratas singt die Titelrolle und der niederländische Dirigent Hans Vonk dirigiert.
'Lulu' am 9. Juni 1962 zum ersten Mal in Wien! Diese Ausführung seit Juni 2013 zum ersten Mal auf DVD!
Die DVD dieser historischen Ausführung erschien Juni 2013 (auf Arthaus Musik, Nr. 101687)!
Daß es Video-Aufnahmen gab, war bekannt: in den Siebzigern moderierte Marcel Prawy, bekannter und beliebter Wiener Opernkenner, im Fernsehen ein Opernprogramm, in dem er Fragmente aus dieser wichtigen Wiener Premiere vorführte. Daneben zirkulierte in beschränktem Kreise noch eine CD-Kassette, worauf - wie auf dem Cover erläutert wird - tatsächlich der Premierenabend festgelegt sei. Die Fernsehfragmente fallen jedoch nicht ganz mit den Aufnahmen der CD-Kassette zusammen. Ein extra Seufzer von Rudolf Schock macht das sofort deutlich.
Karl Böhm dirigiert 'Lulu' 1962
1962: Live-Wien am 9. Juni mit Evelyn Lear (Lulu), Rudolf Schock (Alwa), Paul Schöffler (Dr. Schön), Gisela Litz (Gräfin Geschwitz), Kurt Equiluz (Maler), Alois Pernerstorfer (Tierbändiger) und weiter Hilde Konetzki, Hans Braun, Ludwig Welter, Peter Klein u.a. DIR: KARL BÖHM. Bühnenregie: Otto Schenk.
Rudolf Schock erzählt in seiner Autobiographie einiges über die Vorstellung: Er lobt Otto Schenks "meisterhaft originellen" Regie ("ein wahres Kabinettstück"). Die grosse Liebesszene geht "haarscharf bis an die Grenze des Schicklichen" (wir sprechen über die frühen Sechziger. Zehn Jahre später sollte eine 'Lulu'- Aufführung als 'Sexkrimi' affichiert werden!). Evelyn Lear und Rudolf Schock müssen das grosse, schwere ("gefährliche") Duett "in lasziven Posen' auf einem Kanapee singen. Die öffentliche Generalprobe sorgt für eine animierte Mundpropaganda, so dass die (Zwölfton-)Vorstellung jeden Abend ausverkauft ist.
R. Schock
und
E. Lear
Ich hörte mir die Ausführung, wie sie auf genannter, rarer CD zu mir kam, mit wachsender Begeisterung an. Die Musik (z. B. die 'Verwandlungsmusik' aus dem 1. Akt nach der 2. Szene) sucht und findet das Herz. Die Handlung ist heftig und ein wahrer Funkenregen. Evelyn Lear (1926-2012), die grosse R. Strauss-Sopranistin aus den USA, wurde oft für die Rolle der Lulu gecastet. Ebenso in dieser Wiener Premiere. Ihre Stimme ist reine Schönheit. Wenn sie sich der komplexen Frauenfigur Lulu seriös annähert, lässt Evelyn Lear keine Wünsche unerfüllt. Beginnt sie aber zu parodieren, dann führt das zur Übertreibung. Wenn plötzlich eine operettenhafte Atmosphäre entstehen soll, bedeutet das nicht, dass eine schlechte Operettenausführung imitiert werden muss, Eine schmollende Soubrette ist ein zu fades Operettenklischee. Das passt nicht zur Lulu-Rolle und - meiner Intuition nach - nicht zu Alban Bergs Intentionen. In dieser Hinsicht ist Rudolf Schock ihr überlegen: er beschwört in bestimmten Augenblicken auf einmal einen angenehmen, natürlichen Charme herauf, der sofort danach am unnatürlichen Grauen der Lage scheitert. Anders gesagt: Schock sorgt dafür, dass während einiger Sekunden betäubender Operettenduft in der 12-Tonluft hängt, der jedoch einen Moment später von einer ernüchternden Bemerkung oder einem musikalischen Ausbruch weggefegt wird. Zum Beispiel im 2. Akt kurz vor dem Schluss der Alwa/Lulu-Szene (CD 2, Track 5) klingt plötzlich in effektivem Schock-Falsett: "Mignon (veraltet für 'Liebling'), ich liebe dich", worauf Lulu mit frostiger Sprechstimme reagiert: "Ich habe deine Mutter vergiftet".
Paul Schöffler (1897-1977) ist grossartig als Dr. Schön. Einer, der so gut den Hans Sachs in Wagners 'Meistersinger' singen kann, muss für die Rolle von Lulus Idol wohl geboren sein.
Paul Schöffler |
Kurt Equiluz (1929), der Opern sang, aber namentlich als Bach-Spezialist berühmt wurde, singt einen emotionellen Maler. Peter Klein (1907 - 1992). ein Wiener Charakterbuffo, der mit spielender Leichtigkeit vom Traditionellen zum Experimentellen und umgekehrt pendelte, stellt einen perfekt-verwirrten Prinzen dar, und weiter hört man u.a. Hilde Konetzki (1905 - 1980) als Garderobenfrau, Gisela Litz (1922) als Gräfin Geschwitz, Ludwig Welter (1917 - 1965) als Theaterdirektor und Alois Pernerstorfer (1912 - 1978) als Tierbändiger. Der weltberühmte Karl Böhm (1994 - 1981) dirigiert die Vorstellung, und vielleicht war er wohl die Ursache davon, dass Schock dann und wann Mozart zu hören glaubte.
Rudolf Schock hörte 1962 allerdings nicht nur Mozart. Bei den Proben für 'Lulu' begegnete er einem jungen Repetitor, der "uns Solisten das Studium der Zwölftonpartitur erleichterte". Sein Name war IVAN ERÖD. Schock suchte gerade einen Begleiter für seine Liederabende: sein fester Pianist seit Jahrzehnten Adolf Stauch war auf kleineren Gang geschaltet, und der Nachfolger Robert Wallenborn hatte eine Berufung nach den USA erhalten. Schock war von Eröds Musikalität beeindruckt. Er bat Ivan Eröd, seinen neuen Begleiter zu werden. Eröd sagte zu, und ihr erstes gemeinsames Konzert fand in Koblenz statt. Diese Zusammenarbeit sollte viele Jahre dauern.
Krijn de Lege, 15.10.2008/15.6.2013/22.5.2018
3 Kommentare:
Hallo, wow was für ein interessanter und ausführlicher Artikel. Danke dafür
Lieber Maler Koblenz,
Sehr viel Dank für Ihren freundlichen Kommentar.
Krijn de Lege
Oh, welch interessante Informationen! Vielen Dank.
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