Falls erste Operette 'Der Rebell' wird 1950 im 'Theater an der Wien' uraufgeführt und wird zum Fiasko. Das Publikum reagiert mit einem Zischkonzert. Victor Léon, einer der Librettisten von Lehárs 'Lustiger Witwe', die einen Monat später imselben Theater Premiere haben sollte, agiert gegen die negativen Reaktionen des Publikums dadurch, dass er im Saal auffallend hin und her geht und einige Male "Bravo, Leo Fall!!" ruft. Léon gibt sich nicht mit nur Worten zufrieden: er bietet Leo Fall den Text eines 'Volksstücks' an, und dieser basiert seine zweite Operette 'Der fidele Bauer' darauf. Victor Léon investiert einen Teil des Honorars, das er mit der 'Lustigen Witwe' verdient hat, in eine nachdrücklich nicht Wiener Premiere der neuen Operette Leo Falls. 'Der fidele Bauer' findet im deutschen Mannheim eine überwältigende Aufnahme, und im Nu ist diese Operette eine beliebte Erscheinung in ganz Mitteleuropa. Viel mehr als die Handlung, die sich also - durchaus traditionell - in bäuerischem Milieu abspielt, ist es Falls erfindungsreiche, packende Musik, die die Begeisterung erklärt. Noch keine drei Monate später "wiegt man sich in New York und St. Petersburg (wieder) allüberall im Tanz zu seinen Walzerklängen" (B. Grun): Falls dritte Operette 'Die Dollarprinzessin' ist dieses Mal wohl mit Erfolg vom 'Theater an der Wien' aus lanciert worden: sie wird buchstäblich zum Welttriumph. Die Texte sind von Arthur Maria Willner (einem der Librettisten von Lehárs zwei Jahre späterer Operette ' Der Graf von Luxemburg') und von dem - genauso wie Leo Fall - aus der Kabarettwelt stammenden Fritz Grünbaum. In der Periode bis zum Jahre 1920 schreibt Leo Fall so ungefähr 14 Operetten: darunter grosse Welerfolge wie: 'Die geschiedene Frau' (Wien 1908), 'Brüderlein fein' (Wien 1909), 'Der liebe Augustin' (Berlin 1912 und Remake des 'Rebellen' aus dem Jahre 1905!), die ein wenig von Richard Strauss beeinflussten 'Kaiserin' (Berlin 1915, mit Falls Muse: der legendären Fritzi Massary) und 'Die Rose von Stambul' (Wien 1916, mit Fritzi Massary als 'Die Rose').
*******Leo Fall sieht auf manchen Fotos ein bisschen drohend aus. Er ist eher einem amerikanischen Gangster oder gefühllosen Geschäftsboss ähnlich als einem feinfühligen Operettenkomponisten.
Zeitgenossen kennen Fall aber als einen fröhlichen, humorvollen und charmanten Mann, der mit seinen Operettenerfolgen viel Geld verdient und das auch wieder leicht ausgibt. Er zeigt ein lobenswertes Vermögen, einzustecken, wenn zwei Male eine von ihm geschriebene Oper abgewiesen wird. Das erste Mal passiert ihm das am Anfang seiner Karriere (1904), wenn in Mannheim seine Oper 'Irrlicht' vom Publikum und der Kritik schlecht empfangen wird. Das zweite Mal 1919, wenn 'Der goldene Vogel', eine Oper, woran Fall vier Jahre gearbeitet hatte, nicht in der 'Wiener Oper' aufgeführt werden darf. Die Direktoren loben die "prachtvollen Einfälle", aber weisen die Oper doch ab. Einer der Direktoren ist kein Geringerer als der von Leo Fall bewunderte Richard Strauss, Komponist von u.a. dem 'Rosenkavalier', einer genialen Oper mit einem der allerschönsten Walzer aus der Musikgeschichte. Der Österreicher Leo Fall setzt sich wieder nach Deutschland ab, und zwar nach Dresden. Da singen in der Premiere Grössen wie Richard Tauber und Elisabeth Rethberg. Die Kritik erkennt musikalische Einflüsse von Richard Strauss (!). Nach nur sieben Vorstellungen fliegt 'Der goldene Vogel' nicht mehr aus.
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Fall erholt sich verblüffend schnell von diesem Schlag und komponiert sofort danach wieder drei Operetten, wovon 'Madame Pompadour' (Wien 1922, mit natürlich wieder Massary in der Titelrolle) von Bernard Grun als "Die Meisteroperette par excellence" betrachtet wird.
Grun sieht diese auch nach Volker Klotz "makellose" Operette als die Ankündigung einer möglichen "Stilrenaissance" der Operettengattung. Aber es läuft anders: Im Frühling des Jahres 1925 kehrt Fall nach einer südamerikanischen Tournee todmüde nach Wien zurück, und einige Monaten später stirbt er an einem Gallenblasenleiden.
Ein Dezennium später darf unter den von den Nazis erlassenen Rassengesetzen seine Musik - zusammen mit der von u.a. Edmund Eysler, Oscar Straus und Emmerich Kálmán - nicht mehr gespielt werden. Zu Anfang der sechziger Jahre erleben Falls Operetten ein kleines Revival: Regisseur Kurt Wilhelm produziert fürs Fernsehen eine Operettenreihe, worunter Leo Falls 'Der fidele Bauer' (mit dem niederländischen Tenor John van Kesteren), 'Die Kaiserin' und 'Der liebe Augustin' (mit dem österreichischen Tenor Peter Minich). In denselben Jahren nimmt Eurodisc einige Fall-Melodien mit Rudolf Schock, Erika Köth und Margit Schramm auf. Rezent haben die CD-Label 'Membran', 'Line' und das 'Hamburger Archiv für Gesangskunst' eine grosse Anzahl Rundfunkproduktionen aus den Fünfzigern und Sechzigern auf den Markt gebracht.
Im heutigen Jahrhundert erschien Ende 2010 bei 'Edition Steinbauer' das Buch: 'LEO FALL, spöttischer Rebell der Operette' von Stefan Frey (isbn: 9783902494450)
Rudolf Schock singt Leo Fall
Er macht das jedenfalls 1950, 1952, 1960, 1962, 1963 und 1964. Schocks Fall-Aufnahmen konzentrieren sich auf Fragmente und (leider) gekürzte Fragmentchen aus 4 Operetten, die manchmal in einer ziemlich unordentlichen, ungeschickten Weise auf die Schallplatte und/oder CD geraten sind. Das ist zu schade, weil die Qualität dieser Aufnahmen hoch ist.
Im Jahre 1964 erscheinen auf Eurodisc (EP/LP) Melodien aus 'Die geschiedene Frau' und 'Der liebe Augustin'. Soviel ich weiss haben sie das CD-Stadium nie erreicht. Das ist verständlich, weil es um wohl sehr komprimierte Versionen handelt. Falls 'Rose von Stambul' von Eurodisc aus dem Jahre 1962 präsentiert auf LP in gut einer Viertelstunde eine Anzahl - teils etwas gekürzte - Szenen, aber aus undeutlichen Gründen wird sie an die Theo Mackeben-Bearbeitung (1931) von Carl Millöcker's 'Gräfin Dubarry' (1879) gehängt. Die CD-Veröffentlichung (2007) kopiert die fremde Kombination bedenkenlos. Schock's 'Zwei Augen, die wollen mir nicht aus dem Sinn' aus diesem Querschnitt war in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch in einer längeren Version auf Eurodisc-LP erhältlich.
EMI publiziert 1960 auf EP (45 Upm) einen kleinen, aber klug zusammengestellten Querschnitt aus 'Madame Pompadour'.
Auf LP erscheint auch sie zusammen mit Millöcker/Mackebens 'Dubarry', was angesichts der historischen Bedeutung beider Damen jetzt zu verteidigen ist. Im Jahre 2000 promoviert EMI 'Madame Pompadour' und 'Die Dubarry' zur CD-Classic, worauf sie mit drei anderen, völlig willkürlichen Operetten kombiniert worden sind.
Schon mehr als ein halbes Jahrhundert hat EMI Rudolf Schocks Studio-Aufnahme von 'O, Rose von Stambul' im Katalog. Sie kommt 1952, anderthalb Jahre nach einer vollständigen (!) Kölner Rundfunk-Ausführung von Falls Meisteroperette zustande. Bedeutender Dirigent dieser 1950-Gesamtaufnahme ist Franz Marszalek. Laut der Diskographie hinten in Schocks Biographie existiert die Gesamtausführung noch, aber CD-Label 'Membran-Documents' geht davon aus, sie sei "inzwischen offenbar leider gelöscht" worden. 'Membran' meldet dies übrigens anlässlich einer neueren CD-Ausgabe mit trotzdem einem Querschnitt aus der Ausführung, aber die "seien aus diversen Archiven zusammengesucht worden". Inhaltlich fallen die Ausschnitte (1950) grossenteils mit denen von Eurodisc (1962) zusammen. Sie sind aber zum Glück nicht gekürzt worden. Was es wieder schwierig macht, sie zu finden, ist der Umstand, dass sie einer Marszalek-Gesamtaufnahme von Lehárs 'Paganini' als Bonus beigefügt worden sind (Starsänger Peter Anders singt als Paganini auf dieser Doppel-CD seine letzte komplette Operettenrolle!).
Schocks Titellied 'O, Rose von Stambul' aus der Rundfunk-Aufnahme erschien schon früher als 'CD-Premiere' auf 'da music (Deutsche Austrophon)', zusammen mit anderen, seltenen Funkaufnahmen von Rudolf Schock. Unverständlich und irreführend ist aber der CD-Titel: 'Fernsehwunschkonzert (!) mit Rudolf Schock'.
Schliesslich zirkuliert unter Schockverehrern aus dem Jahre 1963 noch eine Live-Aufführung des Duetts 'Ein Walzer muss es sein!' aus einem 'Münchener Sonntagskonzert'. Schocks Partnerin ist die Sopranistin Ingeborg Hallstein.
Die geschiedene Frau (Wien 1908)
Oktober 1964: Studio-Aufnahmen Eurodisc/BMG (LP, u.a. auf S 72645 IE + 'Der liebe Augustin') mit Margit Schramm als Jana, Rudolf Schock als Karel, Liselotte Ebnet als Gonda und Dir. WERNER SCHMIDT-BOELCKE .
Allein schon der Titel dieser Operette muss damals provozierend gewirkt haben. Wenn eine(r) Falls Operette wirklich gesehen hätte, wäre der 'Skandal' nicht halb so schlimm, aber erst müsste eine(r) dann doch noch versuchen, zu verkaufen, sie oder er habe einer 'geschiedenen Frau' einen Besuch gemacht. Librettist Victor Léon löste dieses Problem dadurch, dass er den Plot nicht 'bei uns in Österreich' stattfinden liess, sondern in die etwas 'liberaleren' Niederlande verlegte. Um genau zu sein: in die Stadt Amsterdam und die Kirmes im 3. Akt ins friesische 'Zuiderzee'-Städtchen Makkum. In diesem Zusammenhang ist es prickelnd, zu wissen, dass die Niederländer direkt schon 'Die geschiedene Frau' nur zu gern in ihren Theatern aufführen wollten, aber nicht nachdem sie die Handlung auf die 'erst echt liberale' Stadt Paris abgeschoben und die Kirmes aus dem 3. Akt an der normandischen Küste situiert hatten.
Kurze Zusammenfassung der 'Geschiedenen Frau'
Kern der Handlung ist, dass Jana von Lysseweghe (ist ein flämischer Name!) sich von ihrem Mann Karel scheiden lassen will, weil er im Nachtzug von Nizza nach Amsterdam das Schlafwagenabteil mit einer fremden Dame geteilt haben soll. Gonda van der Loo - so heisst die fremde Dame - und ein gekränkter Karel verneinen das nachdrücklich, aber der Schein spricht gegen Gonda, weil sie sich prinzipiell zur 'freien, unabhängigen Liebe' bekennt. Der erste Akt spielt im Gerichtssaal, und der zweite auf einem Kostümfest in dem Villa, worin Karel jetzt allein wohnt. Im 2. Akt sind zwei Momente dramatisch bedeutungsvoll: Zuerst will Karel auf ausgesprochen rationelle Weise 'liebe Gonda' zu 'ein kleines bissel Heirat' bewegen. Er findet, so etwas dürfe für eine Frau, die der Lehre der 'freien Liebe' anhängt, kein Problem sein. Und Karel selbst könne eine solche Heirat 'der Gesellschaftspflicht und des guten Rufes wegen' prima gebrauchen. Gonda - wie tief geht's mit ihren Prinzipien? - fühlt sich von Karels Plan wohl angezogen. Dann erscheint unerwartet Jana, und es kommt zu einem zweiten Walzerduett eines noch immer hoffnungsvollen Karel mit Jana. Der Maskenball bietet ihnen die Gelegenheit, - in bezug auch auf Verwandte und Bekannte - 'ein kleines Schauspiel für zwei Geliebte' vorzuführen: 'Kind, du kannst tanzen wie meine Frau!'. Weiter als dieses Bühnenstückchen kommt Karel im 2. Akt bei Jana nicht. Im 3. Akt aber erklärt der Nachtzugschaffner, der (überraschend zufälligerweise) auch auf der Kirmes ist, Karel und Gonda hätten einander in der bewussten Nacht mit keinem Finger angerührt. Jana und Karel versöhnen sich, und Gonda heiratet den Gerichtspräsidenten aus dem ersten Akt, der auch immer auf der Kirmes in Makkum zu finden ist.
Der Ausgang des gewöhnlich in Operetten musikalisch ziemlich dürftigen 3. Aktes macht deutlich, dass Gonda (selbstverständlich?) ihren Fortschrittsglauben fallen lässt, und Lana, 'die geschiedene Frau' (selbstverständlich?) 'Karels glückliche Hausfrau' wird. Ist dieses Ergebnis das vom Publikum verlangte 'Ende gut, alles gut-Finale' einer durchschnittlichen Operette? Und macht der Operettenkomponist auf diese Weise einen Kniefall vor dem österreichischen Publikum und der gesellschaftlichen Korrektheit, die ihm schliesslich ein hübsches Honorar garantiert? Ich bezweifle es: der Schwerpunkt dieser Operette liegt psychologisch eben im komplizierten Dreiecksverhältnis des 2. Aktes. Es übersteigt das Oberflächliche und liefert die Munition für ein zynisches HappyEnd.
Die Aufnahmen aus der 'Geschiedenen Frau'
Drei Fragmente auf einer LP (Gab es je eine 45 Upm-Platte? - KdL.) können kein Gesamtbild dieser Operette geben. Wohl sind sie dramatisch wichtig und deshalb gut gewählt worden. Aber warum hat man sie auf die Hälfte reduziert? Rudolf Schock lässt übrigens hören, dass er unter diesen kümmerlichen Umständen noch imstande ist, Karels Charakter Profil zu geben: Im simplen, regelrechten 'Karel-Gonda-Walzer' aus dem 2. Akt ('Gonda, liebe Gonda') klingt ein freundliches, aber distanziertes '1+1 macht 2' durch. Im Walzerduett mit Jana ("einer vielfältigen und vielphasigen musikalischen Szene, die den Walzer in wechselnder Dynamik, bald übermächtig hervorbrechen, bald untergründig fortströmen lässt" - Volker Klotz) singt er stark auf die Situation bezogen: mit hier einem Schuss Ungeduld und da einem Hauch von Spott ('Kind, du kannst tanzen wie meine Frau!'). Der 3. Titel (aus dem Finale) 'Du, ach du, bist wieder mein!' spricht für sich selbst: Karel und Jana (mit einer in solcher Musik perfekten Margit Schramm) bilden wieder ein Liebespaar.
Der liebe Augustin (Berlin 1912)
Oktober 1964: Studio-Melodienfolge Eurodisc/BMG (EP: 41301 CE/LP: u.a. auf S 72645 IE + 'Die geschiedene Frau') mit Rudolf Schock als Augustin Hofer, Margit Schramm als Prinzessin Helene, Walter Muggelberg als Nicola, dem Fürsten von Mikolics, Ferry Gruber als Jasomitgott, Kammerdiener der Prinzessin, Liselotte Ebnet als Anna, seiner Tochter und Dir. WERNER SCHMIDT-BOELCKE.
Die unverstandene Operette 'Der Rebell' aus dem Jahre 1905 bekommt von Leo Fall ein 'extreme makeover'. Als 'Lieber Augustin' macht sie 1912 wohl Eindruck. Das neue Unverständliche ist, dass Falls 'Augustin' jetzt ein schüchterner Musiklehrer geworden ist, während der 'echte, liebe Augustin', der je als rebellischer Bänkelsänger und Dudelsackpfeifer durch die historischen Strassen Wiens umherstreifte, ein frecheres Rollenmodell abgegeben hätte.
Kurze Zusammenfassung des 'Lieben Augustin'
Augustin Hofer ist Klavierlehrer der schönen, minderjährigen Prinzessin Helene. Augustin liebt Helene und Helene liebt Augustin, aber der Zuschauer sieht ein, dass sie einander wegen des Standesunterschieds nie heiraten dürfen. Ausserdem entschliesst sich der korrupte Regent Bogumil als Onkel und Vormund der Helene, die Prinzessin solle im finanziellen Interesse des Staates eine möglichst reiche Ehe eingehen. Anna, Tochter des Kammerdieners der Helene, läuft auch gegen Standesunterschiede an. Sie ist von Jasomirgott, ihrem Vater, als Verlobte dem anständigen Augustin aufgedrängt worden, aber man kann Gift darauf nehmen, dass solche Konstruktionen nicht wirken. Auch in diesem Fall, denn die Anna fühlt sich viel mehr zum politischen Gegner Bogumils, dem genauso korrupten Fürsten Nicola angezogen. Nicola ist der Meinung, 'eine kleine Liaison' mit dem einfachen Mädchen habe historisch wohl eine Basis, aber für Anna bietet ein solches Verhältnis keine einzige Garantie für die Zukunft. Die Lösung, die sich die Librettisten Bernauer und Welisch (wahrscheinlich schmunzelnd) für das Finale haben einfallen lassen, ist ein bewährtes Klischee: Helene und Anna sind kurz nach der Geburt verwechselt worden und das unvermeidliche Muttermal zeigt, Helene sei die Tochter ihres bürgerlichen Kammerdieners, und Anna die Nichte des adligen Bogumil. Nichts steht jetzt noch eine festliche Doppelhochzeit im Wege, und der 'Himmel hängt voller Geigen!'.
Es mutet wie eine Sahnetorte an, aber Text und Musik der Operette rücken Ungleichwertigkeit von Menschen, Manipuliersucht derjenigen, die - wie es heisst - 'über Andere gestellt worden sind', Egoismus, Opportunismus und Engstirnigkeit im Umgang mit gesellschaftlichen Sitten und Gebräuchen in ein kahles Tageslicht. Karikaturistische Vergrösserung menschlicher Schwächen und unverfroren wie 'neu!' lancierte Klischees sind die farbige Geschenkpackung eines satirischen Inhalts.
Wo ist der 'Rebell' aus der gleichnamigen Operette von 1905 geblieben?
Eine gute Antwort könnte sein: Der Rebell von 1905 steht von 1912 ab nicht mehr auf, sondern hinter der Bühne, und er heisst Leo Fall. Aber eine andre Anwort wäre auch möglich, denn wie bescheiden und anständig benimmt sich 'Der liebe Augustin' eigentlich? 'Lass dir Zeit, alles mit Gemütlichkeit' ist die erste Zeile, die Augustin in der Operette singt. Er präsentiert sich dem Publikum als ein unter allen Umständen beherrschter, sozialer, junger Mann. Zwei Zeilen weiter erläutert er das näher: 'Zuckt dir 'mal das Schicksal ans Ohr, trag's dann mit Humor....', aber danach - im hinreissenden Refrain - zeigt er auf einmal doch einige Züge, die als Egoismus und Opportunismus gedeutet werden könnten:
'Was es Schönes gibt, DAS NIMM DIR! Sei nicht gleich betrübt, geht's schlimm dir;
Schau, es hat dir ja das Leben, so viel Herrliches zu geben! Es greift ein jeder zu WARUM DENN AUCH NICHT DU...'
Wenn der volljährige Augustin der jungen Helene begegnet, lässt er Anna ohne Gewissensbisse fallen. Von diesem Moment an berührt er das Klavier kaum noch und bringt nicht nur sich selbst, sondern auch 'seinen Kameraden Helene' in die Probleme. Er verdreht ihr den - dann noch adligen - Köpfchen mit Phantasien über ein intimes, romantisches Wirtshaus, worin sie die Wirtin und er der Wirt sei und über einen wolkenlosen Himmel, der für immer voller Geigen hänge! Der (innerlich rebellische?) Augustin hat denn auch das grösste Glück der Welt, wenn letzten Endes Helene sich ihm in die Arme werfen darf.
Die Aufnahmen aus dem 'Lieben Augustin'
sind - auf EP: 45Upm - etwas substanzieller, aber es bleibt ein Behelf. Der Zuhörer bekommt kaum einen Einblick in die Operettenhandlung, weil die sieben Fragmente beinahe alle dermassen amputiert worden sind, dass man selbst nicht mehr von einem 'kurzen Querschnitt' sprechen kann. Es ist eigentlich nicht mehr als eine ungefähr 10 Minuten dauernde Melodienfolge.Zwei Momente fallen aus dem Rahmen. Erstens ein reizendes Duettchen von Nicola und Anna, das zwei (!) Couplets dauert. Es fällt durch die Länge direkt auf, um so mehr, da Walter Muggelberg und Liselotte Ebnet 'Es gehört zum guten Ton, eine kleine Liaison' so liebevoll singen. Ich frage mich aber wohl, ob Walter Muggelberg sich in Nicolas unangenehmen Charakter vertieft hat, denn er klingt fast zu liebevoll. Zweitens ist die Strophe, die Rudolf Schock von Augustins Auftrittslied singt, lang genug, um festzustellen, dass er auf einer Operettenbühne bestimmt gewusst hätte, was er mit der Augustin-Rolle hätte anfangen sollen. Er singt einen teils andren Walzerrefrain, als ich hieroben zitiert habe. Wurden Leo Falls rebellische 'Giftzähne' bewusst gezogen, oder singt Rudolf Schock eine spätere Strophe, deren Refrain vielleicht anders lautet? Schliesslich: Die Stimmen von Margit Schramm und Rudolf Schock passen schön zueinander in 'Sei mein Kamerad' und 'Wenn die Sonne schlafen geht'.
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Die Rose von Stambul (Wien 1916)
Dezember 1950: Fragmente aus Rundfunk-Gesamtaufnahme. Membran-Documents (CD 223985-311 + Gesamtaufnahme 'Paganini' von F. Lehár mit Peter Anders) mit Ursula Kerp als Kondja Gül, Tochter des Kamek Pascha, Rudolf Schock als Achmed Bey, Sohn eines Ministers, dem Kölner Rundfunkchor und Dir. FRANZ MARSZALEK.
Dezember 1950: Lied von Achmed Bey (1. Akt) 'O, Rose von Stambul', Fragment aus derselben Rundfunk-Gesamtaufnahme. Da-music (CD 77888) - Rudolf Schock/Dir. Franz Marszalek.
***Juni 1952: Lied von Achmed Bey 'O, Rose von Stambul', Studioaufnahme. EMI-Classics (u.a. CD 7243 5 85285 2 7: 'Mit Rudolf Schock in der Welt der Operette (Vol. 1) - Rudolf Schock/Dir. Wilhelm Schüchter.
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Oktober 1962: Studio-Querschnitt. Sony/Eurodisc (CD 88697 18798 2 + Fragmente aus 'Die Dubarry' von C. Millöcker/T. Mackeben) mit Erika Köth als Kondja Gül, Rudolf Schock als Achmed Bey, Günther Arndt-Chor und Dir. FRANK FOX
Oktober 1962: Längere (!) Version Lied von Achmed Bey (3. Akt) 'Zwei Augen, die wollen mir nicht aus dem Sinn', Studioaufnahme. Ariola/Eurodisc (LP, u.a. auf 88 957 OE) - Rudolf Schock/ Günther Arndt-Chor/Dir. Frank Fox.
***Februar 1963: Duett Achmed/Kondja (2. Akt) 'Ein Walzer muss es sein!', Live-Aufnahme aus München (in privaten Archiven). Mit Rudolf Schock, Ingeborg Hallstein und Dir. Werner Schmidt Boelcke.
Die Premiere am 2. Dezember 1916 findet mitten im Ersten Weltkrieg (1914-1918) statt. Die ersten beiden Akten spielen sich in Istanbul ab, der dritte in einem schweizerischen Hotel, auf neutralem Boden. Die Wahl von Leo Fall und seinen Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald für das türkische Milieu zeugt höchstwahrscheinlich von dankbarer Sympathie für die Türken, die sich Ende 1914 in den Krieg mischen und dabei die Seite von Deutschland/Österreich-Ungarn wählen. Modern und aktuell mutet an, dass in der - zugegeben: ziemlich wienerischen - Hauptstadt Istanbul Jugendliche nach Modernisierung des islamitischen Staates verlangen: die Tochter der mächtigen Pascha, Kondja Gül, liest heimlich westlich orientierte Romane und lernt daraus, dass sie sich lieber heute als morgen emanzipieren möchte. Achmed Bey, der vielversprechende Sohn des Ministers, beklagt das Schicksal der schweigenden Haremfrauen. Überdies zeigt er sich bereit, nur eine einzige Frau zu heiraten und in dieser einen alle Frauen liebzuhaben.
Über die Handlung der 'Rose von Stambul' und eine Anzahl Höhepunkte daraus
1. Akt: Kondja Gül und Achmed Bey sind füreinander bestimmt, aber leider schon bei der Geburt von ihren beiderseitigen Eltern. Achmed liebt Kondja zwar, aber Kondja schwärmt für André Lery, den Verfasser ihrer Lieblingsbücher. Sie sendet ihm sogar Liebesbriefe. André antwortet und nennt sie 'die Rose von Stambul'. Was der Zuschauer schon bald weiss, ist, dass Achmed Bey und André Lery ein und dieselbe Person sind. Achmed singt 'O, Rose von Stambul, nur du allein', worin er deutlich macht, dass er keinen Harem besitzen will und welches Bild er sich - auch literarisch - von einer Tausendundeine Nacht-Ehe mit der von ihm angebeteten Kondja macht.
2. Akt: Besonders dieser Akt ist voll musikalische Perlen. Achmed singt das bezaubernde Loblied: 'Ihr stillen süssen Frau'n - Euch, ihr Frauen. gilt meine Serenade'. Er fühlt sich, verglichen mit ihnen, die sich verschleiern müssen, wie ein 'Bettler, der vor ihnen kniet'. Aber später im Ständchen verlangt er feurig 'nach dem Tag, der sie entschleiert und befreit'. Er wird an diesem Tag wieder da sein, aber dann als 'Sieger, der vor ihnen kniet!'. Kurz darauf folgt die Hochzeitszeremonie mit einem ungeduldigen Achmed und einer zurückhaltenden Kondja ('Sie kommt, schon naht mit Bangen'). Achmeds Walzermelodie 'O, Rose von Stambul' ist in diesem Ensemble 'Leitmotiv'. Im Schlafgemach fällt der Schleier, und wird das Paar sich einig über ein 'Glück nach der (westlichen) Mode, mit einer Probezeit von vier Wochen'. In diesem Monat muss sich zeigen, dass sie sich wirklich lieben. Beinahe erklärt Kondja, die zum ersten Mal in ihrem Leben Alkohol trinkt, sich dann doch noch besiegt, und das geschieht in Leo Falls ekstatischen Tanzduett 'Ein Walzer muss es sein!'. Dieser Walzer ist das treffendste Beispiel für das, was ich zu Anfang dieser Aufzeichnungen meinte: der Rhythmus dieses Tanzes - bald beschleunigend, bald bremsend - und eine Vielfalt der Klangfarben passen musikalisch und inhaltlich nahtlos zur Handlung. Die tieferen Absichten des Liebespaars spiegeln sich in diesem jubelnden Lobgesang im Dreivierteltakt wider und werden dadurch wonnevoll unterstrichen. Kondja sträubt sich noch ein bisschen und spottet dabei: 'ALSO NUR ein Walzer??', aber Achmed hämmert in seiner Hochzeitsnacht Kondja pausenlos ins Bewusstsein, sie müsse sich 'unbedingt' dem (unverblümt erotischen) Walzer ergeben, jenem Tanz, den das Mädchen schon so oft in ihren Träumen getanzt, aber nie in Wirklichkeit erfahren hatte: 'Willst du keinen Himmel brauchen?/Willst du einmal untertauchen/in ein Meer von Lust?/Willst du einmal Nektar schlürfen?/Willst du einmal wissen dürfen/was du nie gewusst!'. Es gelingt Kondja aber doch, Achmed zu entkommen. Sie verlässt die Türkei.
3. Akt: Achmeds 'Alter ego': der prominente Schriftsteller André Lery sitzt einige Tage später ein wenig traurig in der Suite eines schweizerischen Luxushotels. Er versucht, zu akzeptieren, dass Kondja nicht ihn, sondern ein Traumbild liebt. Das kostet ihn Mühe, 'weil er so aufgelegt ist!'. Und dann klingt wieder so eine grossartige Leo Fall-Erfindung ("eine achselzuckende...anmutige Antiklimax" - Volker Klotz), ein kleine, wehmütige Melodie, die Achmed gespielt nonchalant vor sich hin singt: 'Zwei Augen, die wollen mir nicht aus dem Sinn....Heut wär' ich so in der gewissen, der zärtlichen Stimmung....schade, schade...'.
Kondja, die es gewagt hat, mit 'André' in einem schweizerischen Hotel abzusprechen, erfährt die niederschmetternde Mitteiling, Herr Léry habe eine Suite für ihn selbst und fur seine Frau reserviert. Zum Glück für Kondja kostet Achmed den 'Spass' nicht zu lange aus. Er entschleiert jetzt auch sich selbst. Die von Kondja ausbedungene Probezeit von vier Wochen ist das letzte Hindernis auf dem Wege zur Suite Achmeds. Kondja macht jedoch ihre und Achmeds Zeit mit Flair gefügig und reisst mit ihrer kleinen, emanzipierten Hand achtundzwanzig Kalenderblätter ab.
Die Aufnahmen aus der´Rose von Stambul´
werden - was die Fragmente aus den Jahren 1950 und 1962 betrifft - beziehungsweise von dem deutschen Dirigenten Franz Marszalek und dem österreichischen Dirigenten/Arrangeur Frank Fox geleitet. Marszalek stiehlt die Show, aber Frank Fox zeigt sich ebenso ein hervorragender Dirigent von Falls Musik.
Franz Marszalek (1900-1975), der von 1949 ab das Kölner Rundfunkorchester leitete, galt und gilt als renommierter Operetten-Dirigent.
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Die bekannte Sopranistin Anny Schlemm (geb. 1929), die ausser Oratorium und Oper in ihren jungen Jahren unter Marszalek auch oft Operette sang, nannte ihn je in einem bewachten Augenblick (denn wir wissen es heute) ehrfürchtig den "Karajan der Operette". Das wird sofort verständlich, wenn man sich seinen Aufnahmen anhört. Franz Marszalek war aktiv für das Theater, den Film, den Rundfunk (als "Herr Sanders" öffnete er einst viele Male "seinen Schallplattenschrank") und das Fernsehen. In den Fünfzigern dirigierte er allein schon für den Rundfunk 60 vollständige Operetten und später war er auch der zentrale, musikalische Leiter der TV-Operetten, deren Regie der schon genannte Kurt Wilhelm führte.Viele von den Operetten, die Marszalek festlegte, gehören nicht zum Standardrepertoire, aber sind heute - mit viel Dank an ihm - wohl auf CD erhältlich. Er setzte sich für die Werke von zu Unrecht unterschätzten, aber eben musikalisch sehr bedeutungsvollen Komponisten ein, wie z.B. Leo Fall und Eduard Künneke (1883-1953), von denen letzterer sein guter Freund wurde. Marszalek wusste für diese Aufnahmen eine reiche Auswahl an anstürmendem Operetten- und Operntalent zu engagieren. Unter ihnen die drei grossen, deutschen Tenöre der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts: Peter Anders, Rudolf Schock und Fritz Wunderlich. Mit Schock nahm Marszalek für den Rundfunk Gesamtausführungen von vier Operetten auf: von Johann Strauss Jr.: 'Eine Nacht in Venedig', von Eduard Künneke: 'Die grosse Sünderin', von Bruno Granichstaedten: 'Der Orlow' und von Leo Fall: 'Die Rose von Stambul'.
Frans Marszalek leitet die erhalten gebliebenen und glücklicherweise zugleich wesentlichen Fragmente aus 'Die Rose von Stambul' mit kräftiger Dynamik. Das famose Walzerduett aus dem 2. Akt erlebe ich bis zur Klimax als ein grandios geordnetes Spektakel durcheinanderspielender Musikinstrumente, worin eine ausser sich geratene Geige und ein ähnliches Klavier das gesamte Orchester überschwemmen, und die Stimmen der Solisten 'in ein Meer von Lust untertauchen'.
Kondja wird von Ursula Kerp gesungen, einer soubrettenhaften Sopranistin, von der ich leider wenig erfahren kann. Ihre hübsche, spielerisch klingende Stimme ist in vielen Rundfunk-Operetten aus den fünfziger Jahren zu hören. Aber sie ist 1960 an der Mailander Scala auch eine der Blumenmädchen in Richard Wagners Oper 'Parsifal'. Sie tritt dort zusammen met Sängern wie Sándor Kónya (Parsifal), Gustav Neidlinger, Boris Christoff und der belgischen Altistin Rita Gorr auf. André Cluytens, ein andrer, berühmter Belgier, dirigierte. In einer LP-Aufnahme (Auch auf CD zu haben?) von Humperdincks 'Hänsel und Gretel' singt Ursula Kerp das Sandmännchen. Otto Matzerath leitet die Oper und die Rollen von Hänsel und Gretel werden von Elisabeth Grümmer und Erika Köth dargestellt.
Rudolf Schock ist Achmed Bey
Die Marszalek-Aufnahme aus dem Jahre 1950 (Taucht an einem festlichen Tag die Gesamtaufnahme doch noch auf?) lässt Rudolf Schock in einer seiner umwerfendsten Operettenrollen hören. Der Rundfunkmikrofon registriert in der jungen, unbefangenen Stimme den Glanz von Samt und das Gefunkel von Stahl. Auf EMI, im Jahre 1952, bleibt das Titellied unter Wilhelm Schüchter ganz in der Nähe. In den tontechnisch schöneren Stereoaufnahmen aus dem Jahre 1962 auf Eurodisc gibt es den Samt und das Funkeln noch in ausreichendem Masse, und beweist Schock mit ausdrucksvollem Gesang aufs neue seine Affinität mit der Achmed-Rolle und Falls Musik.
Dirigent Frank Fox (1900-1965) lässt den Berliner Symphoniker con brio musizieren, und Schocks Partnerin ist eine liebreizende, intelligent singende Erika Köth. Es gelingt dieser Kondja in der ungestümen Walzerszene glaubenswürdig möglichst lang (ein wenig) Distanz zu dem sich leidenschaftlich aufdrängenden Achmed zu wahren: ihr 'ALSO NUR ein Walzer?' klingt denn auch ironisch. Die Zusammenstellung der Studioaufnahme weicht kaum von den gut zehn Jahre älteren, ausgegrabenen Rundfunkfragmenten ab. 'Membran' hat aber nicht aus dem 2. Akt das Ensemble, das die Eheschliessung einleitet ('Sie kommt, schon naht mit Bangen'), aber wohl die Anfangsszene mit Duett im Schlafgemach ('Das ist das Glück nach der Mode'). Eurodisc hat leider Achmeds 'Zwei Augen, die wollen mir nicht aus dem Sinn' aus dem 3. Akt halbiert (Schade!), obschon man es wohl vollständig aufgenommen hatte. Das komplette Lied erschien nämlich auf einer einzelnen Schock-LP mit Operettenliedern.
In der Live-Aufnahme von 1963 aus München ist Schocks Achmed unvermindert Feuer und Flamme und dieses Mal für Ingeborg Hallstein (geb. 1933), die Kondja stilvoll singt.
Madame Pompadour (Berlin 1922)
Dezember 1960: Studioaufnahme. EMI-Classics (CD 7243 8 26393 2 9 + 'Die Dubarry' und drei andere Operettenquerschnitte) mit Melitta Muszely als Marquise de Pompadour, Rudolf Schock als René d'Estrades, Karl-Ernst Mercker als dem Dichter Joseph Calicot, dem Günther Arndt-Chor und Dir. WERNER SCHMIDT-BOELCKE.
'Marquise de Pompadour' (Gemälde von François Boucher - 1703-1770)
Operettenexperten Volker Klotz und Bernard Grun sind sich ganz einig. Klotz: "Das Libretto von Rudolph Schanzer & Ernst Welisch und Leo Falls Musik sind beinahe makellos, das Werk ist ebenso einfallsreich wie geistvoll"; Grun: "Textlich, musikalisch, stilistisch und zeitkritisch: die Meisteroperette par excellence". Obwohl ich kein Experte bin, schliesse ich mich gern den Sachverständigen an: Der hieroben genannte EMI-Querschnitt, der nur etwas mehr als eine Viertelstunde dauert, enthält faszinierende Musik und ist ein kleines Juwel, das einen glücklich macht.
Interpretation (mit Dank an Volker Klotz) und Zusammenfassung von 'Madame Pompadour'
Paris um 1750 herum: Marquise de Pompadour, Staatsmätresse des Königs Louis XV, hat eine geheime Liaison mit dem verheirateten Grafen René d'Estrades. Die Operette fängt mit einer Karnevalsfeier an. Der adlige René hat in jedem Arm eine Grisette, als er 'völkisch' herausgeputzt, mit Maske und bestgelaunt ein Bad in der Menge nimmt ('Laridi, laridon, 's Karneval!'). Im Gewühle läuft er 'zufälligerweise' der genauso 'völkisch' maskierten Marquise in die Arme. Mit grossem Talent für Schlichtheit nennt sie sich 'Jeanne'. Eine herrliche Nacht kann beginnen! Maurepas, Polizeiminister betrachtet die Marquise jedoch als eine politische Rivale. Er lässt sie bespitzeln mit der Absicht, sie - wegen der strafbaren Beziehungen mit dem verheirateten René - beim König in Ungnade fallen zu lassen. Die Marquise durchschaut den Plan des Ministers und wendet eine List an: sie erteilt den Auftrag, einige 'staatsfeindliche Elemente' zu verhaften. Unter ihnen sind der Dichter Joseph Calicot, der Spottlieder auf sie und (also) den König macht, UND Graf René, der den Dichter gerade darum bewundert. Die Marquise katapultiert Joseph Calicot zum privaten Hauspoeten und macht den inzwischen ernsthaft verliebten René zum 'Soldaten ihrer Leibgarde'. Maurepas und seine Spitzel verstehen nichts davon: die Marquise tut, alsob sie - wie die reinkarnierte Frau des biblischen Potiphar - den aus dem Lot gebrachten Joseph verführen will: 'Joseph, ach Joseph, was bist du so keusch?!/Das Küssen macht so gut wie kein Geräusch'. Was zum spottlustigen Duett wohl Geräusch macht, ist das Orchester, das bombastisch das Schicksalsmotiv aus Bizets 'Carmen' zitiert (Wie Don José Carmen nicht kriegen konnte, kannst du, dummer Joseph Calicot, natürlich mich, die Marquise, nicht kriegen!). Ihr zweites - seriös erotisches - Spiel spielt die Marquise mit ihrem Soldaten in der Intimität des eigenen 'Exerzierplatzes',"der sich vom Vorzimmer bis in ihr Schlafgemach erstreckt" (Klotz). Sie zieht als Kommandant die Zügel an und befiehlt René streng, auf ihre Kommandos zu hören. René täuscht vor, dass er sich als treuer Untertan ihren Befehlen unterwirft, aber beim Text, den er im Takt eines stets obsessiver werdenden Militärmarsches improvisiert, handelt es sich um etwas ganz anderes: 'Heutenacht will ich zu dir kommen, auch müsst' ich's büssen' ('Stillgestanden! Kerzengrade! - Ich bin dein Untertan, dein Treuer!'). Volker Klotz betont in seiner brillanten Analyse der Operette, dieses Exerzierduett sei "ein entscheidender musikdramaturgischer Knotenpunkt der Madame Pompadour". Es dreht sich in dieser Operette natürlich nicht um das HappyEnd (Es stellt sich heraus, dass Madeleine, Renés Frau, die Halbschwester der Marquise ist. Diese kann also kein Verhältnis mehr mit ihrem Schwager haben. Louis XV hat also keinen Grund mehr, argwöhnisch zu sein, und René kehrt also - wie es sich gehört - zu seiner Frau zurück.) Nein, In 'Madame Pompadour' und vielen, anderen Fall-Operetten dreht es sich um den Drang der Menschen, dem grauen Alltag, der gesellschaftlichen Zwangsjacke zu entrinnen. Klotz: "Je grösser die Einschränkungen, desto heftiger der innere Stau...man bricht in fremde Rollen aus, die ihnen einen grösseren Spielraum geben". Jana und Karel sind erst imstande miteinander zu tanzen, wenn sie kostümiert auf dem Tanzboden stehen. Prinzessin Helene kehrt dem goldenen Käfig den Rücken zu und macht mit dem Augustin in aller Einfachheit ein Wirtshaus auf. Die einfache Anna möchte eine Prinzessin sein und sie wird es. Kondja wirft den Schleier ab und Achmed verwandelt sich gerne in André Lery. Die Marquise de Pompadour lebt erst wirklich, wenn sie maskiert unter dem Volke ist, Potiphars Frau spielt oder in der Rolle eines Kommandanten den gehorsamen Leibwächter René kommandieren kann. Aber Renés Spielraum ist die Liebe: er negiert die Befehle und bringt der angebeteten Vorgesetzten ein Ständchen ('Madame Pompadour, Kronjuwel der Natur'), dessen glühende Melodie von den anderen Soldaten der Leibgarde übernommen wird, wodurch man sogar von kollektiever Insubordination sprechen könnte.
Die Aufnahmen aus 'Madame Pompadour'
werden von Werner Schmidt-Boelcke (1903-1985) auf EMI mit Schwung dirigiert. Es ist ein Wunder, dass ein so kleiner Querschnitt einen so grossen Eindruck macht.
Rudolf Schock singt nicht nur mit schöner Stimme, sondern sein René hat auch alles, was man sich bei der Gestalt vorstellt: Charme, Humor und eine zwingende Leidenschaft, wovor ich nur willig kapitulieren kann.
Der Charakterbuffo Karl-Ernst Mercker (geb. 1933 - siehe auch 'RS singt Adam') sang an der Berliner Oper viele Opernrollen, aber war in den sechziger Jahren auch oft in Operettenaufnahmen zu hören: zur Zeit der Leo Fall-Aufnahme ist er noch sehr jung, aber das merkt man nicht an der selbstverständlichen Mühelosigkeit, womit er im 'Joseph, ach Joseph'-Duett seine Rolle singt und vor allem spielt. Um der Glaubwürdigkeit des Operettenauftritts einer historischen Gestalt wie die Marquise de Pompadour eine nicht allzugrosse Gewalt anzutun, war die Wahl der gut aussehenden, lyrisch-dramatischen Sopranistin Melitta Muszely eine ideale.
ist ungarischer Abkunft, aber wird in Wien geboren. Sie debütiert als Sängerin in Regensburg und wird 1953 vom international geschätzten Regisseur Günther Rennert (1911-1978) für die Hamburger Staatsoper engagiert. Die 1. Rolle ist ist 'Mme Butterfly' (Puccini). Hamburg wird zum Sprungbrett für die verschiedensartigsten Rollen in Paris, Lissabon, Florenz, Edinburgh, Venedig und - besonders - Berlin. In Berlin singt sie 1958 die vier Frauenrollen in 'Les Contes d'Hoffmann' (Offenbach) unter der Leitung einer zweiten Regisseursgrössen: Walter Felsenstein (1901-1975), dessen erneuerndes 'magisch-realistischen Theater' ein Unikum in der Musiktheaterwelt war und ist. Felsenstein machte prinzipiell keinen Unterschied zwischen Oper und Operette (!) und feilte langwierig und detailliert an seinen sorgfältig gewählten 'Sänger-Darstellern', von denen er erwartete, sie könnten nicht nur expressiv singen, sondern auch expressiv darstellen. Von Felsensteins 'Hoffmann' wurde ein Film gemacht (heute auf DVD), ebenso wie von seiner 'La Traviata' (Verdi). Melitta Muszely singt und stellt auch in der Verdi-Oper ("eindrucksvoll") die weibliche Hauptrolle dar, die live im Fernsehen ausgestrahlt wird. Melitta Muszely singt 1958 auch die Rolle der Micaëla in 'Carmen' unter dem dritten berühmten Regisseur: Wieland Wagner (siehe 'RS singt Bizet'). Er entfacht bei ihr das Verlangen, in Opern von Richard Wagner zu singen. EMI nimmt die "wunderbar unverwechselbare Sopranstimme mit dem leicht slawisch gefärbten, leicht melancholischen Oboen-Timbre" ('Opernwelt') für eine Reihe Opern- und Operettenaufnahmen unter Vertrag. Dabei ist Rudolf Schock oft ihr Tenorpartner.
Melitta Muszely ist ein gern gesehener Gast in den Medien, und in den frühen Sechzigern wird sie zusammen mit Erika Köth und Rudolf Schock in ein Robert Stolz-Revival mit hineinbezogen. Anschliessend bekommt sie vom Dirigenten und künstlerischen Leiter Herbert von Karajan die Einladung, an der Wiener Staatsoper aufzutreten. Damit geht für Melitta Muszely ein feuriger Wunsch in Erfüllung: endlich in ihrer Heimatstadt singen zu dürfen. Ihr wird garantiert, dass sie u.a. in drei grossen Opernpremieren wichtige Partien singen wird: Mélisande in 'Pelléas et Mélisande' (Claude Debussy), Micaëla in 'Carmen' (Georges Bizet) und Arabella in 'Arabella' (Richard Strauss).
Dann folgen die Enttäuschungen: Von Karajan haut 1964 nach einem heftigen Krach ab. Der Nachfolger (Egon Hilbert) setzt Muszely zwischen 1964 und 1967 nur in Repertoirevorstellungen ein (Mozart, Smetana und die Sophie in 'Der Rosenkavalier' von Richard Strauss). Musikmagazin 'Opernwelt' veröffentlicht 2007 gelegentlich des 80. Geburtstag der Sängerin ein ausführliches Interview, worin Melitta Muszely sich bitterlich die ungünstigen Umstände erinnert, worunter sie in Wien arbeiten musste: "Ich war so verwöhnt von den bezaubernden Kollegen in Hamburg. Und hier jetzt ...diese gönnerhafte, diese schlecht gespielte Freundlichkeit. Der einzige Mensch in dieser ganzen Hölle war die Janowitz (Muszelys Soprankollegin Gundala Janowitz).Und dann diese schauspielerische Wüste! Die Staatsopernbühne hat ihre akustischen Tücken, und die Eingeweihten kannten die guten Stellen. Da standen sie, als wären sie angenagelt - deswegen gab's eben kein Schauspiel...."
Um 1970 herum zieht sich Melitta Muszely, 42 Jahre alt (!), von der Opernbühne zurück. Das Publikum kann sie danach nur noch, aber wohl dezennienlang, live als Liedersängerin hören. Neben den tief enttäuschenden Erfahrungen in Wien müssen beim Rücktritt sehr wahrscheinlich die ernsthafte und langwierige Krankheit ihres Mannes und der körperliche Verfall von Muszelys Lieblingsregisseur Walter Felsenstein mit in Augenschau genommen werden. Zu einer von Felsenstein mit Muszely als Elisabeth geplanten Produktion von Verdis 'Don Carlos' ist es leider nicht mehr gekommen.
Melitta Muszelys Zusammenarbeit mit Rudolf Schock hat Anfang Januar 1958 mit Aufnahmen von Fragmenten aus 'Ein Walzertraum' von Oscar Straus (Dirigent: Wilhelm Schüchter) begonnen. Sofort danach folgen grosse Opernquerschnitte aus 'La Traviata' und 'Il Trovatore' von Guiseppe Verdi und eine Gesamtaufnahme von 'I Pagliacci' von Ruggiero Leoncavallo unter Horst Stein. Melitta Muszely, Rudolf Schock und Josef Metternich sind in der Saison 1958/59 die 'Trias Musica' der deutschsprachigen Oper. Im Jahre 1960 nehmen Muszely und Schock in Berlin die soeben besprochene Aufnahme von Leo Falls 'Madame Pompadour' auf.
Ein niederländisches, gemeinschaftliches Auftreten von Muszely und Schock könnte diesem Überblick zugefügt werden: Am 29. September 1962 findet im 'Kurhaus' von Scheveningen das 'GRAND GALA DU DISQUE POPULAIRE 1962' statt. Es wird integral vom niederländischen Fernsehen übertragen und die Moderatoren sind bekannte Niederländer wie Conny Stuart und Willem Duys.
Der Trennungsstrich zwischen diesem Gala und dem ähnlichen 'GRAND GALA DU DISQUE CLASSIQUE' (1962 u.a. mit dem Opernstar Renate Tebaldi) wurde und wird in den Niederlanden viele Male schärfer gezogen als der zwischen Kirche und Staat. Im Jahre 1962 treten während des populären Galas u.a. Conny Froboess ('Zwei kleine Italiener'), Nana Mouskouri, Vera Lynn, der 'Maastrichter Staar', die 'Dutch Swing College Band' und die phänomenale Jazzsängerin (und mehr als das!) Cleo Laine auf. Umrahmt von der englischen Cleo Laine und der französischen Gesangsgruppe 'Les Compagnons de la Chanson' singen der deutsche Rudolf Schock und die österreichische Melitta Muszely live drei Operettenfragmente: aus Lehárs 'Giuditta' 'Freunde, das Leben ist lebenswert' & 'Meine Lippen küssen so heiss' und aus Kálmáns 'Gräfin Maritza' 'Sag' ja, mein Lieb', sag' ja'. Sie werden vom AVROs Cosmopolitain Orchester unter dem Dirigenten Jos Cleber begleitet.
Ich erinnere mich, dass sich dieses Auftreten merkwürdig vom übrigen Programm abhob: man steckt in den Niederlanden eben wohl die Oper und nicht die Operette in die 'klassische' Schublade. Eigentlich sangen Melitta Muszely und Rudolf Schock am verkehrten Gala-Abend und bestätigten damit ungewollt ein hartnäckiges, niederländisches Vorurteil. Und dann zu bedenken, dass beide Sänger eine weitberühmte Opernerfahrung mit sich trugen. Noch vor einigen Wochen sang z. B. Rudolf Schock in Alban Bergs 'Lulu', in Leoncavallos 'I Pagliacci', in 'Cosi fan tutte' und 'Die Zauberflöte' von Mozart und in 'Manon Lescaut' von Puccini.
Krijn de Lege, 28.7.2024