"Der deutsche Gigli"
Diese Schlagzeile wählt das seriöse Wochenmagazin 'Die Zeit' im Monat November des Jahres 1986 für einen Nachruf, der dem gestorbenen Rudolf Schock gewidmet ist. Der Journalist Wolfram Schwinger beschliesst den Text folgendermassen: "Zu seinen Paraderollen zählte Donizettis Nemorino: da konnte er den Schmelz seiner einschmeichelnden Stimme mit ihrem unverwechselbaren 'goldenen Knödel', ihrem sinnlich-warmen Timbre gänzlich entfalten. Es war in der Berliner Staatsoper (die noch im Admiralspalast spielte....), und es wurde seinerzeit noch deutsch gesungen; doch wenn nach seiner Liebesromanze die Beifallsorkane einfach nicht enden wollte, trat er vor den Vorhang und sang das 'Una furtiva lagrima' noch mal auf Italienisch, nun erst recht demonstrierend, wie ein deutscher Gigli kantabelsten Belcanto verströmen kann":
Gaetano Donizetti (1797-1848)
Gaetano Donizetti (1797-1848)
Aber zuerst noch einmal mit grossen Schritten durch die Geschichte des Musiktheaters. So dass wird bald 'zu Hause' sind. Keine Trödelei, denn wir haben in diesen Zeiten - wie der niederländische Künstler Herman van Veen mal sang - "eine unglaubliche Eile"!
Im 17. Jahrhundert entwickelt sich die Oper besonders in Italien. Zuerst von Venedig aus als 'opera seria' - ernsthaft also der Inhalt - mit grossen Namen wie Monteverdi und Scarlatti und dann daneben von Neapel aus als 'opera buffa', wofür Komponisten wie Logroscino und Pergolesi eine frohgestimmtere Musik schreiben. Der dominante Gesangstil ist der 'bel canto', der nach "Schönheit des Stimmklangs und Vollkommenheit der Technik" (Leo Riemens 1959) strebt und - füge ich hinzu - 'la musica' dienstbar sein soll. Im 18. Jahrhundert verbreiten 'opera seria' (Händel und anfangs auch Gluck) und 'opera buffa' sich via Paris über ganz Europa. Mozart ist eigenwillig und schiebt 'seria' und 'buffa' ineinander. Für 'Don Giovanni' (1787) denkt er sich die Bezeichnung 'dramma giocoso' aus: eine 'heitere Tragödie' mit z.B. Donna Anna/Don Ottavio im tragischen und Leporella/Zerlina im heiteren Lager. Titelfigur Don Giovanni fühlt sich bis zum unvermeidlichen Untergang in beiden Lagern heimisch. Am Ende des 18. Jahrhunderts, aber vor allem im 19. Jahrhundert wird in Europa die Dominanz des italienischen 'bel canto' von einem stark auf den Wortausdruck ('le parole') bezogenen, dramatisch-deklamatorischem Gesangstil durchbrochen. Später sollten in immer mehr Opern beide Gesangstile einander ergänzen, und dieser musikalische Kompromiss wurde (und wird) dann wieder 'Belcanto' genannt.
Zurück nach Italien,
(wo in der 'opera buffa' das gesungene 'recitativo secco' ('das trockne Rezitativ') mit Cembalo-Begleitung für alle Partien, ausserhalb die des Bassisten, noch lange durchhält, während anderswo gesprochene Dialoge ihr Entree machen. Mozart komponiert denn auch für seine italienischen Opern gesungene Rezitative, aber für die deutschsprachige 'Entführung aus dem Serail'(1782) gesprochene Dialoge.)
Im 19. Jht. richtet Gioacchino Rossini (1792-1868) alle Opern-Aufmerksamkeit wieder auf Italien. Er komponiert ernsthafte (z.B. 'Tancredi'-1813) und komische Opern (u.a. 'Il barbiere di Siviglia'-1816). Daneben schreibt Rossini nach dem Vorbild Mozarts 'dramma giocoso'-Opern, worin Ernst und Scherz einander abwechseln: 'L'italiana in Algeri'-1813, 'La Cenerentola (Aschenbrödel)'-1817, 'Il viaggio a Reims (Reise nach Reims)'-1825. Im Jahre 1829 sagt Rossini dem Musiktheater in grandioser Weise lebewohl mit der für Paris geschriebenen, historischen 'Grand Opéra' 'Guillaume (Wilhelm) Tell'. In den Dezennien danach beschränkt er sich auf religiöse Kompositionen (wie das 'Stabat Mater'-1842), Musik für Klavier und Lieder.
Vincenzo Bellini (1801-1835: siehe Porträt) und Gaetano Donizetti führen Rossinis Arbeit weiter und kontinuieren damit den Ruf Italiens als die Wiege der Oper. Bellini wird berühmt mit heftig romantischen Opern wie 'Norma'-1831 und 'La Sonnabula (Schlafwandlerin)'-Dez. 1831. Sein Freund, Felice Romani (1788-1865: siehe Porträt), dichtet die Texte für Bellinis Opern und für eine 'dramma-giocoso'-artige Oper 'L'elisir d'amore', womit Gaetano Donizetti 1832 international durchbricht. Rossini, Bellini und Donizetti schlagen eine bedeutende Brücke zwischen Mozarts Opern und denen von Verdi und Puccini.
Was geschieht auf der Brücke?
Die strenge Einteilung 'opera seria' und 'opera buffa' wird allmählich aufgegeben. Mischformen kommen auf. Automatismen für das 'core-business' der verschiedenen Stimmarten (z.B. der Bassist singt immer den Hohepriester) und die Gestaltung der Arien werden in Frage gestellt. Unter 'Belcanto' wird nicht nur 'schöner Gesang', sondern auch 'expressive Textbehandlung' verstanden. Mythologische und historische Helden und Heldinnen teilen die Bühne immer öfter mit 'gewöhnlichen Menschen'. Statische Typen wachsen zu sich entwickelnden Charakteren aus. Das Publikum wünscht sich realistischere Opern-Handlungen ('verismo'): greifbare Menschen in einer greifbaren Welt. Donizetti zeigt sich für diesen Wunsch nicht taub.
Mehr als siebzig Opern!
Gaetano Donizetti aus Bergamo debütiert 1818 als Opernkomponist. Bis ins Jahr 1830 ist Rossinis Einfluss auf sein Werk deutlich merkbar. Aber dann - so ungefähr dreissig Opern weiter - betritt 'Anna Bolena' (Libretto: Felice Romani) die Bühne. Wieder steht die Geschichte Modell, aber die Opernfigur der Anna stellt sich als ein Mensch von Fleisch und Blut heraus. Sie ist erkennbar für das italienische Opernpublikum, das ihre Freuden und Schmerzen teilen kann, und Donizetti hat den ersten, grossen Erfolg. Unermüdlich produziert der Komponist abermals vierzig Opern, worunter 'L'elisir d'amore' (Mailand 1832), 'Lucretia Borgia' (Mailand 1834), 'Lucia di Lammermoor' (Neapel 1835), 'La Fille du Régiment'/'La Favorite' (beide Paris 1840), 'Linda di Chamounix' (Wien 1842) und 'Don Pasquale' (Paris 1843). In all diesen Opern fährt Donizetti mit der musikalisch nuancierten Zeichnung menschlicher Charaktere fort, die er in 'Anna Bolena' (Foto: Maria Callas als Anna Bolena) in den Griff bekam. Zwischen seinen Opern hindurch schreibt er Sinfonien, Streichquartette, und ein Requiem für den (sehr jung) gestorbenen Bellini. In Bologna dirigiert der staunenerregenden Donizetti 1842 die Weltpremiere von Rossinis 'Stabat Mater'. Im Jahre 1844 leidet er an einer Gehirnerkrankung und wird er in einer Pariser Anstalt gepflegt. Drei Jahre später bringen Freunde Donizetti nach Bergamo zurück, wo er 1848 stirbt.
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'Don Pasquale'
Don Pasquale ist reich und alt. Er will die Witwe Norina heiraten. Sie ist arm und (sehr) jung: ein klassischer Plot für eine altmodisch gemütliche 'opera buffa'. Aber eigentlich kann so etwas 1843 nicht mehr aufgeführt werden, weil die 'opera buffa' eben aus der Mode gekommen ist. Trotzdem ist die Pariser Erstaufführung eine "glänzende" (Riemens) Vorstellung. Donizettis Hauptpersonen präsentieren sich als moderne, lebende Menschen, in denen sich die Zuschauer wiedererkennen. Don Pasquale findet letzten Endes den gesunden Menschenverstand zurück und gratuliert dem Liebespaar Ernesto und Norina grossmütig zur geplanten Hochzeit. Er sieht ein, dass er zu alt für Norina ist. Norina entpuppt sich im Laufe der Handlung als ein schlaues Mädchen, das die Leute aus ihrer Umgebung mühelos zu manipulieren weiss. Donizettis Musik ist ganz Melodienfülle, die im 3. Akt - in Don Pasquales Garten - einen Höhepunkt erreicht: Ernesto singt erst vor dem nächtlichen Rendezvous mit Norina das 'seidene' Ständchen 'Com'è gentil' und dann mit ihr das 'samtene' Duett 'Tornami a dir che m'ami'. Der leichte, lyrische Tenor Tito Schipa exzellierte in dieser Rolle.
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg singt Schock den Ernesto in einer 'Don Pasquale'-Premiere des Staatstheaters in Braunschweig. Fünf Jahre später, am 2. März 1944, singt er - nicht lange nach glücklicher Heimkehr aus Stalingrad - die Rolle noch einmal in einer zweiten 'Don Pasquale'-Premiere, aber dann in Berlin. Michael Bohnen ist Don Pasquale, Karl Schmitt-Walter Dottore Malatesta und Irma Beilke die Norina. Die Vorstellung findet notgedrungen (das 'Deutsche Opernhaus' lag in Trümmern) im Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstrasse statt. Dirigent ist Leopold Ludwig und die Bühnenregie hat Günther Rennert. In Schocks Biographie steht, der Saal sei ausverkauft, aber "Das Publikum war völlig unterschiedlich gekleidet. Manche trugen die Sachen am Leibe, mit denen sie ausgebombt worden waren. Die Ausführung wurde einen "Riesenerfolg" und "Am nächsten Tag war ich berühmt".
Don Pasquale 1944: v.l.n.r. Schock, Beilke, Bohnen, Schmitt-Walter
Einen Eindruck, wie grossartig Rudolf Schock um 1945 die Rolle von Ernesto sang, bekommt man, wenn man sich das sinnbetörende Nachtduett anhört. Es steht auf YouTube und verschiedenen Schock-Solo-CDs mit Opernfragmenten (u.a. auf Laserlight Classics LC 24865 und Sonia CD 74503). Es ist kein Live-Fragment aus der Opernvorstellung im Jahre 1944, sondern ein Mitschnitt aus einem 1946 aufgenommenen Berliner Rundfunkkonzert. Dass Irma Beilke auch hier Schocks 'Norina' ist, gibt dieser Aufnahme besondere Bedeutung.
Einen Eindruck, wie grossartig Rudolf Schock um 1945 die Rolle von Ernesto sang, bekommt man, wenn man sich das sinnbetörende Nachtduett anhört. Es steht auf YouTube und verschiedenen Schock-Solo-CDs mit Opernfragmenten (u.a. auf Laserlight Classics LC 24865 und Sonia CD 74503). Es ist kein Live-Fragment aus der Opernvorstellung im Jahre 1944, sondern ein Mitschnitt aus einem 1946 aufgenommenen Berliner Rundfunkkonzert. Dass Irma Beilke auch hier Schocks 'Norina' ist, gibt dieser Aufnahme besondere Bedeutung.
Die Koloratursopranistin Irma Beilke (1904-1989) trat in fast allen europäischen Musik-Hauptstädten auf. In Salzburg konnte man sie u.a. als Pamina in Mozarts 'Zauberflöte' hören, was bedeutet, dass Irma Beilke im Laufe der Karriere anfing, auch lyrische Sopranrollen zu singen. Ziemlich früh (1958) verabschiedete sie sich von der Opernbühne. Rudolf Schock verfügte in der Periode 1936-1959 über eine respektable Höhe. Aber durch die Umstände im Anlauf zum Kriege, während des Krieges und in der Nachkriegszeit kam die Beherrschung des hohen Registers relativ spät (erste Schallplattenaufnahmen 1947!) zur Geltung. Dennoch nahm Schock zwischen 1947 und 1959 soviel auf, dass es keinen Mangel an Beweisen für diese Fähigheit gibt. Ich denke dabei an hohe Tenorpartien (vollständige und fragmentarische) in 'Der Barbier von Bagdad' (Cornelius), 'Andrea Chénier' (Giordano), 'L'amico Fritz' (Mascagni), 'Hoffmanns Erzählungen', Die grosse Sünderin' (Künneke), 'Die verkaufte Braut' (Smetana), 'Il Trovatore'/Rigoletto (Verdi) und Donizettis 'Don Pasquale' und 'L'elisir d'amore'.
spielt eine Hauptrolle in dieser 'dramma-giocoso'-artigen Oper, worin die Heiterkeit ernsthafte Untertöne hat: Adina hat Land in Pacht und beschäftigt mehrere Arbeitnehmer. Sie ist jung, schön, intelligent und unberechenbar. Sie hat Selbsterkenntnis, denn sie singt, sie sei launisch: 'was mich heute fesselt, langweilt mich morgen'. Nemorino ist ein junger, schüchterner, naiver Bauernknecht ('gut und brav'), der nicht lesen und schreiben kann. Er hat sich in Adina verliebt, aber sieht zu ihr auf: 'sie kann lesen, studieren, jede Wissenschaft erringen, ich bin fremd in solchen Dingen'. Eines (bösen) Tages kommen Soldaten ins Dorf. Ihr arroganter Sergeant (Belcore) ist ein gewandter Schürzenjäger. Belcore will Adina möglichst bald heiraten, denn ehe man sich's versieht, muss ein Soldat wieder weiterziehen. Adina will sich den Heiratsantrag überlegen. Nemorino ist verzweifelt, aber dann beehrt auch 'ein sehr gelehrter Doktor Dulcamara' das Dorf mit einem Besuch. Dulcamara verkauft Flaschen mit einem 'Liebestrank' der schon nach 24 Stunden eine tolle Wirkung hat. Nemorino kauft und trinkt den 'Zaubertrank', der in Wirklichkeit schwerer Wein ist. Dieser berauscht ihn, wonach Nemorino sich Adina gegenüber übermutig und sogar frech benimmt. Das irritiert Adina so, dass sie ausruft, Belcore 'heute noch' heiraten zu wollen. Nemorinos Welt stürzt ein: er fleht Adina um einen Tag Aufschub - was sie trotz so etwas wie eines aufflackernden Mitgefühls ablehnt - und läuft in Panik davon, um 'den Herrn Doktor' zu suchen. Bis soweit der erste Akt.
Im zweiten Akt verschiebt Adina - zu Belcores Ärgernis - die Eheschliessung doch noch einige Stündchen. Es stellt sich heraus, dass Nemorino nicht genug Geld hat, um eine zweite Flasche zu kaufen, die - wie er hofft - die Hormone schneller aktivieren wird. Um Geld aufzutreiben, lässt er sich sogar von Belcore überreden, Soldat zu werden. Gleichzeitig gehen Gerüchte um, Nemorinos steinreicher Onkel sei unerwartet gestorben, und Nemorino selber sei der einzige Erbe. Im Nu sieht ein verblüffter Nemorino sich von Mädchen umringt, die ihm ungehemmt den Hof machen. Dann hat er es verstanden: Der Liebestrank hat doch noch rechtzeitig gewirkt! Adina erkundigt sich danach, was passiert ist. Auf einmal entdeckt sie die eigenen Gefühle für Nemorino. Sie bricht Nemorinos Soldatenkontrakt und gesteht ihm ihre Liebe. Belcore gibt Adina grossherzig auf (für sie zehn andere), und die Oper endet mit fröhlichem Schlussgesang.
In der alten Sage (die den Stoff für das gleichnamige, mittelalterliche Versenepos von Gottfried von Strassburg lieferte und in der 2. Hälfte des 19. Jhts Wagner zur Oper 'Tristan und Isolde' inspirieren sollte) ist ein Liebestrank die Ursache einer erhabenen, aber unmöglichen Liebe zwischen Ritter Tristan und Isolde Blondhaar. Sie wählen für den Liebestod, für eine Wiedervereinigung im Jenseits also. In Felice Romanis Textbuch von 'L'elisir d'amore' ist das lächerliche Getränk des Quacksalbers ein schlechter Bordeaux. Ist Adina eine kluge, zwar launenhafte Dame auf dem Lande, und Nemorino ein schmachtender, einfacher Bauernbursche. Dieses Liebespaar könnte höchstens als eine (beiläufige) Parodie auf die heroischen Gestalten der Sage gemeint sein.
Adina und Nemorino sind auch nicht kennzeichnend für die 'opera buffa'. Adina könnte berechtigerweise mit einer emanzipierten Frau aus der heutigen Zeit verglichen werden: Sie ist gut ausgebildet und führt Leitung über einen Landwirtschaftsbetrieb. Im gesellschaftlichen Verkehr verhält sie sich realistisch und hat Humor. Nemorino ist kindlich, aber aufrichtig. Ungestüm verliebte Leute benehmen sich eben anders als 'normale' Leute. Am Ende der Oper wird Nemorino von den Dorfbewohnern nicht mehr ausgelacht. Er verdient und bekommt von jedem Respekt: 'Bauer-sucht-Bäuerin'-Formel anno 1832.
Bei Belcore und Dulcamara strömt noch das 'opera-buffa'-Blut durch die Adern. Aber auch sie benehmen sich nuancierter: Belcore spielt den Macho, ist jedoch auch ein sportiver Verlierer. Dulcamara ähnelt jenen Geschäftsleuten, die während der ganzen Weltgeschichte einen unstillbaren Gelddurst mt einem flinken Mundwerk paaren.
Bei Belcore und Dulcamara strömt noch das 'opera-buffa'-Blut durch die Adern. Aber auch sie benehmen sich nuancierter: Belcore spielt den Macho, ist jedoch auch ein sportiver Verlierer. Dulcamara ähnelt jenen Geschäftsleuten, die während der ganzen Weltgeschichte einen unstillbaren Gelddurst mt einem flinken Mundwerk paaren.
Donizettis Musik
modelliert die Charaktere und die Charakter-Entwicklungen der Hauptpersonen: Die 'cavatina' zu Anfang des 1. Aktes ('Quanto è bella/Welche Huld und welche Reize'), worin Nemorino den gesellschaftlichen Abstand zur schönen und 'gelehrten' Adina beschreibt, stimmt mit seiner Natur überein. Es ist ein schlichtes Lied fast ohne Textwiederholungen und ohne musikalischen Firlefanz. Nemorinos berühmte Romanze 'Una furtiva lagrima/Heimlich aus ihrem Auge' oder 'Wohl drang aus ihrem Herzen' müsste diese liedartige Schlichtheit genauso ausstrahlen. Donizettis bescheidene Instrumentierung (nur Harfe und Fagott im Vordergrund) ist dafür schon eine Hinweisung, über die man nicht hinweghören sollte. Aber im (späteren) italienischen 'Belcanto' wird das Lied noch wohl einmal - unnötig - durch überdramatische Passion und zuviel vokale Schnörkel vergrössert.
Im grossangelegten Finale des 1. Aktes nimmt Adina plötzlich Partei (Was ist mit ihr los?) für Nemorino. Donizetti übersetzt dieses Benehmen musikalisch dadurch, dass Adina die Melodie von Nemorinos rührendem 'Adina credimi/Adina, glaube mir' übernimmt. Das Militär wird durch ein karikaturistisches Entree unter einschüchterndem Trommelwirbel und drohendem Säbelrasseln persifliert. Die traditionelle 'opera buffa' hinterlässt Spuren im gesungenen 'recitativo secco' mit Cembalo-Begleitung (siehe oben) und im festlichen 2. Finale.
Über die Quelle der Inspiration und die Frage, ob die Oper Erfolg hatte
Wie gesagt: Felice Romani verfasst das Libretto und er lässt sich dazu inspirieren von 'Theatertier' Eugène Scribe (siehe auch 'RS singt Daniël Auber'), der u.a. das Libretto für Daniël Aubers heute vergessene Oper 'Le Philtre (Zaubertrank!)' geschrieben hatte. 'Le Philtre' hatte 1830 Premiere, 'L'elisir d'amore' 1832. Ich glaube nicht, dass Romani & Donizetti ihre französischen Kollegen Scribe & Auber plagiiert haben. Aber der Link zwischen beiden Opern ist unübersehbar.
Nach der Mailander Premiere von 'L'elisir d'amore' wird Gaetano Donizetti schnell international bekannt. Im Jahre 1834 erlebt die Berliner Erstaufführung einen noch bescheidenen Erfolg. 'Der Liebestrank' wurde vom Operntenor Johann Christoph Grünbaum (1785-1870) ins Deutsche übersetzt. Ein Jahr später ist 'Der Liebestrank' in Wien viel erfolgreicher. Bezw. 1836 und 1838 folgen London und New York ('Academy of Music'). Grünbaums deutsche Übersetzung wird im 20. Jht. von Wilhelm Zentner (Universal-Bibliothek Reclam 4144) revidiert und teilweise erneuert. Deshalb singen (sangen?) deutsche Tenöre die Romanze 'Una furtiva lagrima' bald in der alten ('Heimlich aus ihrem Auge'), bald in der neuen ('Wohl drang aus ihrem Herzen') Version. Übrigens verwandelt in der zweiten Fassung die 'stille Träne' aus dem italienischen Text sich in einen tiefen 'Seufzer'.
Am Ende des 19. Jhts gibt es kaum noch Ausführungen von 'L'elisir d'amore'. Donizettis tragische Opern (u.a. 'Lucia di Lammermoor') sind dann sehr populär.
Im Jahre 1901 aber gelingt es - nach langem und heftigem Drängen - dem im 28-jährigen Alter schon weltberühmten Enrico Caruso (1873-1921 (siehe Foto), eine Neupremiere der 'L'elisir d'amore' unter Arturo Toscanini im Mailander 'Scala' zustande zu bringen. Der Erfolg Carusos und 'seiner Oper' war enorm, was sich aus den 36 Ausführungen, die noch folgen sollten, herausstellte. Caruso singt Nemorino 1904 in New York an der funkelnagelneuen 'Metropolitan-Opera'. Er erklärt die Romanze 'Una furtiva lagrima' zu seinem Lieblingslied.
Die Rolle des Nemorino, die für einen lyrische, hohen Tenor geschrieben worden ist, war später eine Glanzpartie von Tito Schipa (1887-1965: siehe Foto), der sie 1935 u.a. in den Niederlanden sang. Und natürlich war Nemorino auch ein idealer Auftrag für den 'mezza voce'- Spezialisten Beniamino Gigli (1890-1957), mit dem 'Die Zeit' Rudolf Schock 1986 gleichsetzt.
Musikrezensent Leo Riemens bemerkt in seinem 'Groot Operaboek'(1959) noch, 'Der Liebestrank' sei in den deutschsprachigen Ländern nie so populär wie 'Don Pasquale' gewesen.
Rudolf Schock als Nemorino auf der Bühne:
Dass Rudolf Schock Juni 1950 alles daran getan hat, um Donizettis 'Liebestrank' in Deutschland beliebter zu machen, möge aus dem 'Zeit'-Text deutlich werden, womit mein Aufsatz öffnet. Mit Schock sangen und spielten Rita Streich (laut der Biographie: "eine entzückende Adina"), Ruth Keplinger (Giannetta), Heinrich Pflanzl (Dulcamara) und Kurt Rehm (Belcore). Hans Löwlein dirigierte und Werner Kelch führte die Regie. Ein Musikkritiker (Horst Koegler), der Augen- und Ohrenzeuge war, bemerkt 1965 in 'Fonoforum', dass er später so einen "amüsanten, sprühenden, donizetti-nahen 'Liebestrank' keineswegs (auch nicht mit dem italienischen Originaltext) sehr oft wiedererlebt habe". Schocks Nemorino erinnert er sich als "betörend".
{Quellenvermeldung der folgenden 4 Fotos:
SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Fotograf: Abraham Pisarek/
SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Fotograf: Abraham Pisarek/
http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/0000873_054, 0000873_067, 0000873_062, 0000873_070}
mit Rita Streich & Kurt Rehm (0000873_054) |
Rudolf Schock (0000873_067) |
mit Heinrich Pflanzl als Wunderdoktor Dulcamara
(0000873_062)
|
Dass Rudolf Schock Juni 1950 alles daran getan hat, um Donizettis 'Liebestrank' in Deutschland beliebter zu machen, möge aus dem 'Zeit'-Text deutlich werden, womit mein Aufsatz öffnet. Mit Schock sangen und spielten Rita Streich (laut der Biographie: "eine entzückende Adina"), Ruth Keplinger (Giannetta), Heinrich Pflanzl (Dulcamara) und Kurt Rehm (Belcore). Hans Löwlein dirigierte und Werner Kelch führte die Regie. Ein Musikkritiker (Horst Koegler), der Augen- und Ohrenzeuge war, bemerkt 1965 in 'Fonoforum', dass er später so einen "amüsanten, sprühenden, donizetti-nahen 'Liebestrank' keineswegs (auch nicht mit dem italienischen Originaltext) sehr oft wiedererlebt habe". Schocks Nemorino erinnert er sich als "betörend".
Rudolf Schock als Nemorino auf CD (und LP)
- 15.7.1950: Rundfunk-Aufnahme aus Berlin 'Una furtiva lagrima' mit Dir. Hans Löwlein (o.a. Relief CR 3001/Laserlight Classics LC 24865)
- 1952: Rundfunk-Aufnahme 'Frag doch, warum der Zephir (Chiedi all'aura lusinghiera)' mit Rita Streich und Dir. Robert Heger (Membran-Documents 231832)
- 25.8.1955: Studio-Aufnahme aus Bielefeld 'Una furtiva lagrima' mit Dir. Wilhelm Schüchter (LP! op EMI E 2008/09/Edition 2000)
- 25.6.1955: Studio-Aufnahme aus Bielefeld 'Heimlich aus ihrem Auge' mit Dir. Wilhelm Schüchter (EMI CDZ 7 67184 2)
- 1955: Studio-Aufnahme 'Heimlich aus ihrem Auge' für den Film 'Der fröhliche Wanderer' mit (ich danke Herrn Ludwig Stumpff sehr für diese Ergänzung!) Dir. Egon Kaiser (Der Film 'Der fröhliche Wanderer' wurde 2015 vom Filmverlag 'Filmjuwelen auf DVD veröffentlicht'!).
- Februar 1962: Berliner Studio-Aufnahmen/Fernsehfilm der Gesamtoper 'Der Liebestrank' mit Stina-Britta Melander (Adina), Lothar Ostenburg (Belcore), Ludwig Welter (Dulcamara), Roswitha Bender (Giannetta), dem Berliner Kammerchor und dem Berliner Symphoniker. Dir. ERNST MÄRZENDÖRFER (!Eine vollständige Ton-Aufnahme ist seit dem Jahre 2012 beim 'Hamburger Archiv für Gesangskunst' unter Nr. 30332 erhältlich. Am 8. März 2013 erschien diese auch auf 'Cantus Classics' unter Nr. CACD 5. 01716F!)
- 12.6.1963: Studio-Aufnahme aus Bamberg 'Una furtiva lagrima' mit Dir. Wilhelm Schüchter (LP! op Eurodisc 70608 KR und 78571 IU)
- 9.1.1965: Live-Konzertmitschnitt aus München 'Una furtiva lagrima' mit Dir. Arego Quadri (nur im Privatbesitz)
Rudolf Schock & Rita Streich SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Fotograf: Abraham Pisarek/
http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/0000873_025
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Rita Streich (1920-1987) ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Koloratursängerinnen des vorigen Jahrhunderts. Sie wurde von u.a. den legendären Sopranistinnen Maria Ivogün und Erna Berger unterrichtet und fing ihre Laufbahn 1943 mit der heiklen Rolle der Zerbinetta in 'Ariadne auf Naxos' von Richard Strauss an. Im Jahre 1954 sollte sie in guter Gesellschaft von Elisabeth Schwarzkopf, Irmgard Seefried und Rudolf Schock die gleiche Rolle in der Gesamtaufnahme von 'Ariadne' unter Von Karajan singen. Sofort nach dem Krieg (1946) begegneten sich Rita Streich und Rudolf Schock zum ersten Mal bei einem gemeinsamen Konzert in Oebisfelde. Das Honorar bestand aus allerhand zu essen, weil Geld wertlos geworden war. Nach dem Konzert zogen sie "reich bepackt" nach Hause.
In diesem selben Jahr 1946 debütierte Rita Streich an der Berliner Staatsoper in den Rollen von Olympia ('Hoffmanns Erzählungen' von Offenbach: siehe Foto Deutsche Fotothek) und Blondchen ('Entführung aus dem Serail' von Mozart). In 'Rigoletto' von Verdi sang sie neben Rudolf Schock und Josef Metternich und noch einmal mit Schock in 'L'elisir d'amore'. Nach Berlin kam Wien und danach feierte die Sängerin Triumphe in der ganzen Welt. Ab 1974 gab Rita Streich die Reichtümer ihrer musikalischen Erfahrung zu jungen, angehenden Sängern und Sängerinnen weiter. Im Booklet bei der CD 'Mit Rudolf Schock in der Welt der Operette (Vol. 2)' erzählt Thomas Voigt übrigens, Rita Streich sei in den frühen Fünfzigern auch unter dem Namen 'Gina Berger' aufgetreten ('Berger' war der Nachname ihres Gatten). Auf genannter Schock-CD (EMI 7243 5 85286 2 6) singt die 'geheimnisvolle Gina Berger' zwei Fragmente aus Georg Jarnos Operette 'Die Förster-Christel'. Voigt vermutet, die junge Rita Streich wolle nicht als Pop-Sängerin bekannt werden, aber auch könnte es möglich sein, dass sie den Status von Operettensängerin als nicht so günstig für ihre Opern- und Liederkarriere einschätzte. Warum wären sonst die 'Förster-Christel'-Aufnahmen unter einem Pseudonym eingesungen?
Die Gesamtaufnahme von 'L'elisir d'amore' aus dem Jahre 1962
veranlasst mich, kurz auf den Blogtext': 'Rudolf Schock: Sänger und Darsteller (3)' zurückzugreifen.
Unter '1959 - 1986' schrieb ich: "Im Laufe des Jahres 1959 mutet Rudolf Schocks Stimme etwas weniger biegsam an. Das höchste Register kostet mehr Kraft"......... Friedrich Herzfeld (Verfasser einer Kurzbiographie von Schock und Musikkritiker) stellt fest, dass Rudolf Schock 1960.....in der französischen Oper 'Wenn ich König wär (Si j'étais Roi)' entzückend singt und träumt....aber auch, dass er wohl ein wenig Mühe mit den Spitzentönen hat". Etwas weiter bemerkte ich jedoch: "...unberührt bleiben Charme, Charisma, Flair, Musikalität, Überzeugungskraft, hervorragende Textbehandlung und über alles die natürliche Einfachheit seiner Darstellung". Es ist diese Kombination von Eigenschaften, die Musikkritiker Thomas Voigt 2004 zur rhetorischen Frage anregt: "..wie viele Sänger hat es gegeben, die ihre Qualitäten, die im Laufe der Jahre nachliessen, so gut zu kompensieren wussten wie Rudolf Schock?" Diese Wiederholungsübung dient mit als Hintergrund für das, was folgt.
Der 1960-Erfolg der französischen, komischen Oper 'Si j'étais Roi' (siehe auch 'RS singt Adolphe Adam') als Fernsehfilm und Schallplatte inspirierte 1962 zu einem zweiten Fernsehfilm + Schallplatten-Gesamtaufname.
Diesmal in bezug auf eine komische Oper aus dem italienischen Repertoire.
Wie der 'Si j'étais Roi-Film' an eine gerühmte Berliner Adam-Vorstellung gekoppelt war (mit denselben Sängern, demselben Dirigenten und Regisseur), könnte ein 'L'elisir d'amore-Film' an eine gerühmte Berliner Donizetti-Vorstellung erinnern.
Der Zeitraum zwischen der Bühnenausführung von 'L'elisir d'amore' und deren Fernsehaufnahme war aber mehr als 10 Jahre!
'Si j'étais Roi' wurde ja aufgeführt UND aufgenommen imselben Jahr.
Von den Leuten, die die Oper 1950 zum Erfolg gemacht hatten, standen nur Rudolf Schock und Opernregisseur Werner Kelch noch zur Verfügung. Dennoch muss die Verführung gross gewesen sein, Film und Schallplattenaufnahme zu machen. Werner Kelch hatte gerade viel Anerkennung für seine Enszenierung der Adam-Oper auf der Bühne und im Fernsehen gefunden, und Schock war "für die Rolle des verliebten Fischers in der Adam-Oper wie geschaffen" (Herzfeld).
Es war deshalb ein verständlicher Schritt, neben Kelch und Schock auch den Dirigenten von 'Si j'étais Roi' (Ernst Märzendörfer) und deren weibliche Hauptrolle (Stina-Britta Melander) zu engagieren.
Februar 1958 kündigt Rudolf Schock seinen Exklusiv-Vertrag mit EMI/Electrola!
Er verspricht aber "auch weiterhin für Electrola zu singen, solange EMI-Produzent Fritz Ganss (Foto: mit Rudolf Schock) dort tätig bleibt".
Im Jahre 1961 errichtet die DDR aber die Berliner Mauer.
EMI/Electrola verlegt all ihre Berliner Aktivitäten nach Köln.
Fritz Ganss will nicht nach Köln und bleibt in seiner Berliner Wohnung. Am 30. September 1962 wechselt er von Electrola nach Ariola-Sonopress über und arbeitet dann nur noch für Ariolas neue Klassik-Label 'Eurodisc'.
Rudolf Schock geht mit, und es folgen Toningenieur Horst Lindner, ein Teil des Aufnahme-Teams, die Sekretärin, sowie "mehrere Schreibkräfte". Electrola "beantragt beim Landgericht Berlin eine Einstweilige Verfügung gegen Rudolf Schock: Es solle ihm verboten werden, für Eurodisc zu singen". Der Electrola-Antrag gegen den Sänger wird abgewiesen.
Eine zweite 'Einstweilige Verfügung' gegen Ariola-Sonopress über den konkurrierenden, dicken grünen Balken oben an der Vorderseite der 'Eurodisc'- Plattenhülle wird nicht abgewiesen.
Die 'Liebestrank'-Gesamtaufnahme ist die erste von sehr vielen Schallplatten, die Rudolf Schock seit 1962 für Ariola/Eurodisc machen sollte!
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Reaktionen auf die Schallplattenaufnahme
Löbl und Werba finden in 'Opern auf Schallplatten (1983)' die Ausführung eher "drastisch als elegant, aber wenn man das in Kauf nimmt, ist man mit dieser Aufnahme nicht schlecht bedient". Harold Rosenthal urteilt in 'Opera on Record (1979)': "Schock wird älter, Stina-Britta Melander ist eine farblose Heldin, und Belcore/Dulcamara sind "unidiomatic").
Am Negativsten ist Horst Koegler im Musikmagazin 'Fonoforum (1965)'. Zuerst verweist er auf die "sprühende, donizetti-nahe" Berliner Aufführung aus dem Jahre 1950 (siehe seinen Jubel hieroben). Dann nennt er Ernst Märzendörfers musikalische Leitung "glanzlos", "inflexibel" und "insensibel". Völlig "un-donizettihaft" sei - nach Koegler - Märzendörfers "Entschluss zu einer Begleitung der Secco-Rezitative mit einem offenbar auch noch elektroakustisch verstärkten Cembalo".Weiter kritisiert er fast alle Solisten, einen ausgenommen. Und wer nun erwartet, dieser eine Solist werde im Kontext dieser Blogtexte Rudolf Schock wohl sein, irrt sich. Nur Ludwig Welter als Dulcamara - findet Koegler - sei ein guter "Buffo cantante". Schock dagegen hat Schwierigkeiten mit der Höhe und ist "kurzatmig", Lothar Ostenburg oft "zu vierschrötig", und die arme Stina-Britta Melander "ordinär": "Sie hat ein Organ, dessen keifendes Timbre einem sehr auf die Nerven geht".
In den Niederlanden zeigt sich dagegen Leo Riemens über die Aufnahme ausserordentlich begeistert. Leider besitze ich die Kritik nicht mehr, aber ich weiss noch, Riemens bedaure es, dass so etwas Schönes selten oder nie die niederländischen Bildschirme erreiche. Eine einzige Zeile sitzt mir noch im Kopfe: "....und der mir (Riemens) nicht bekannte Bariton Lothar Ostenburg ist auch nicht zu verschmähen".
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Reaktionen auf die Fernsehsendung von 'L'elisir d'amore (Der Liebestrank)'
habe ich zwar nicht finden können, aber einigen abgeleiteten Signalen ist zu entnehmen, dass die Fernseh-Oper positiv aufgenommen wurde: nach der ersten Sendung am 13. Januar 1963 wird Donizettis 'Liebestrank' vom ZDF am Neujahrstag 1965 wiederholt. Der österreichische Opernkritiker Marcel Prawy zeigt im Fernsehen Fragmente aus der Sendung in seinem Opern-Magazin. Ein integraler Tonband erscheint auf LP in den Sechzigern und noch einmal in den Siebzigern mit Fotos aus dem Fernsehfilm.
Vom Fernsehfilm selbst wird in den Dezennien danach nichts mehr vernommen. Bis ins neue Jahrhundert. Dann machen sich Schockverehrer auf die Suche nach dem Film, und gehen Gerüchte um, das ZDF habe den Film vernichtet oder Marcel Prawy habe für seine TV-Sendung das Bildband verschnitten.
DANN ABER - 2011 - TAUCHT DER FILM AUF! Und ab November 2015 ist er - mit Dank an Ulrich Dünnebach) auf You Tube zu sehen und zu hören:
L I N K : RUDOLF SCHOCK & STINA-BRITTA MELANDER im Film 'DER LIEBESTRANK' 1962
Der Film ist also wieder da, und ich habe ihn gesehen und gehört:
Regisseur Werner Kelch machte mit seinem Film einen grossen Sprung nach vorn.
Seine Registrierung von 'Wenn ich König wär' aus dem Jahre 1961 war - wie reizend und charmant auch - faktisch eine gefilmte Bühnenaufführung.
Im 'Liebestrank' aber ändert er seine bühnenmässige Vorgehensweise viel mehr in eine explizit filmische.
Ein glänzendes Beispiel davon ist der Moment, worin Kelch Donizettis dynamische Musik fliessend visualisiert im aufregenden Bild eines dynamisch im Kreise drehenden Karussels.
Im Duett von Belcore und Nemorino aus dem 2. Akt, worin der Sergeant den verzweifelten Nemorino für die Armee ködert, nutzt Kelch mit rasch wechselnden Kamera-Einstellungen den tragischen Humor der Szene effektiv aus.
Eine andere große Überraschung bietet das Filmtonband:
Immer glaubte ich, es sei mit den Tonaufnahmen der LPs identisch.
Aber das ist es jedenfalls nicht in Nemorinos 'Welche Huld und welche Reize', in seinen Duetten mit Adina und der Romanze 'Heimlich aus ihrem Auge'. An mehr Stellen höre ich Unterschiede, so dass ich zu der (bei mir) aufsehenerregenden Schlussfolgerung gelange, dass wir hier eigentlich mit einer - wenigstens teilweise - zweiten Version des 'Liebestranks' zu tun haben!
Das Filmband klingt natürlich nicht so brillant wie die Stereo-LPs, aber z.B. im so eben genannten Duett Belcore/Nemorino stellt es sich heraus, dass der Ton - was hier und da wohl auf der LP der Fall ist - sich durch Übersteuerung nicht verzerrt. Das kommt besonders der höheren Lage von Schock Tenorstimme zugute. Ich habe übrigens den Eindruck, dass Rudolf Schock in dieser für mich neuen Version im allgemeinen ein ganz kleines bisschen flexibeler bei Stimme war.
Den 'Liebestrank' habe ich mir rezent wieder viele Male angehört!
Und - ich versichere Ihnen - der Trank wirkt! Ernst Märzendörfer (1921-2009), der österreichische "Mozartdirigent, der weiss, wie man die feinen Details zum Klingen bringen soll"(Thomas Voigt 2004), scheint sich auf die ernsthafteren Untertöne des Werkes zu richten. Es ist tatsächlich so, dass Nemorino mit Selbstmordgedanken umherläuft: sowohl in Romanis Text als in Grünbaums Übersetzung der Mineur-Romanze ('Una furtiva lagrima') will er sich nur noch ein einziges Mal an Adina anschmiegen um 'die Schläge ihres Herzens zu hören'. Er glaubt, es klopfe nur für ihn, obschon Adina sich dessen nicht bewusst sei. Ja, und erst dann könne er sterben! 'Aus Liebe (d'amor)', nach Romani,'zufrieden', nach Grünbaum. Die Cembalo-Begleitung (Vgl. 'Knaurs Grossen Opernlexikon 1999') der gesungenen Rezitative ist von Donizetti so gemeint. Sie ist nicht akustisch verstärkt worden. Horst Lindner hat sie nur gut aufgenommen. Lothar Ostenburg (1928-1971), dessen Name eigentlich Lloyd Oostenbrug lautet, und der in Iowa (VS) geboren wurde, ist ein ironischer Belcore mit üppiger Baritonstimme. Ludwig Welter (1917-1965) ist passend als Dulcamara. Die 'Wortkaskaden' rollen ihm gekonnt von der Zunge, aber ich behalte das Gefühl, es hätte mehr Farbe in der Rolle gesessen. Welter war in sehr vielen Rollen - u.a. betont in italienischen Opern - an der Wiener Staatsoper zu hören. Roswitha Bender singt mit kleiner, aber reizender Stimme Adinas Vertraute Giannetta. Sie ist zusammen mit den Damen des Berliner Kammerchors unwiderstehlich im 'Flüster-Chörchen' ( ich nenne es lieber 'Klatsch-Chörchen') mitten im 1. Akt. Stina Britta-Melander ist eine Glanznummer: ihre Koloraturen sind wie gestochen, ihr musikalisches Feingefühl für Donizettis Musik musterhaft. Jedesmal Gänsehaut, wenn sie zu Anfang der Arie, die dem Schlussduett vorangeht, Nemorino den losgelösten Kontrakt zurückgibt mit den beiden Worten: 'So (mit vibratolosem Crescendo) nimm (mit Diminuendo)'. Melander zeigt Geist und Grösse, Ironie und Mitgefühl. Sie ist eine ideale, emanzipierte Adina, von der jedermann direkt glaubt, dass sie prima imstande ist, einen Betrieb zu leiten.
Stina-Britta Melander (1924-2010)
In 'RS singt Adolphe Adam' berichtete ich, die Sopranistin Stina-Britta Melander habe ab und zu in Reaktionen auf ihren Anteil an 'Si j'étais Roi' (1960) weniger gute Kritiken geerntet. Diese schwedische Sängerin, die 1949 vom berühmten Tenor Jussi Björling und 1954 von dem sich verabschiedenden Benjamino Gigli nachdrücklich gefördert wurde, die Sängerkarriere weiter auszubauen, hat eine (mir) imponierende Stimme. Ihre kräftigen Spitzentöne sind aufreibend, und Umfang und Klangfarbe des mittleren und unteren Stimmlage beschwört bei mir sogar ein Callas-Gefühl herauf.
Vor einem Monat las ich im Internet Kritiken von u.a. Göran Forsling (Musicweb-international), die meinen Zweifel, ob ich noch wohl gut hören konnte, wegnahmen. Forsling bespricht eine Doppel-CD, die mit der Wiedergabe einer Testplatte für HMV anfängt, die Stina-Britta Melander mit 14 Jahren aufnahm. Damals schon fielen die bequemen Spitzentöne und ihre Begabung für Koloraturgesang auf. Die grössten Erfolge erringt Melander zwischen 1958 und 1973. Im Jahre 1958 singt sie die Rolle der Glauce in 'Medea' von Cherubini "with a chrystal clear voice and perfect coloratura"; 1959 wird sie nach einem sensationellen deutschen Debüt als Violetta ('La Traviata') in Wiesbaden 52-mal vor den Vorhang gerufen. Imselben Jahr singt sie mit viel Erfolg die "Lieblingsrolle" Zerbinetta in 'Ariadne auf Naxos' neben Lisa Della Casa (Foto: Della Casa (l.), Melander (r.)-Archiv Ilse Buhs/Jürgen Remmler).
Zu den Highlights auf CD rechnet Forsling Lieder von Max Reger, Mimis Arie aus 'La Bohème' UND Norinas Arie aus Donizettis 'Don Pasquale': "a high spot...recorded in 1959 and sung in Italian where her Norina is witty and alluring (Humor und Format hat)".
Rudolf Schock
Schliesslich Rudolf Schocks Nemorino: älter, aber nicht zu alt, um zu überzeugen. Mit nie nachlassender Intuition - sich auf die Linie Märzendörfers stellend - den Schwerpunkt vom bewährten 'Italianità' auf die dramatisch-deklamatorische Tragik verlagernd, die Donizetti für den Nemorino bestimmt so gemeint haben könnte. Den "Atemnot" gibt es bei Schock wirklich nicht. Wohl kostet ihn ein vereinzelter hoher Ton Kraft, aber so einem Moment stehen viele, bedeutendere Augenblicke gegenüber: Schocks Einfachheit und Natürlichkeit, die eben zu Nemorino gehören, die Glaubenswürdigkeit seiner Verzweiflung im 1. Finale ('O, Herr Doktor!), die dumpfe Traurigkeit, womit er Adina fleht 'nur heute nicht' Belcore zu heiraten, das anschliessend gesungene 'Adina, glaube mir', das Adinas (und mein) Herz schmelzen lässt. Aber alles übersteigend bleibt die Art und Weise, wie ein Tenor die Romanze aus dem 2. Akt darstellt:
'Heimlich aus ihrem Auge sich eine Träne stahl'
(Noch eine kurze Bemerkung: Im einzelnen - übrigens ganz komplett aufgenommenen - Duett mit Rita Streich aus dem Jahre 1952 ist Schocks Nemorino vokal und expressiv stark. Ausser Virilität hat dieser Nemorino aber ein italienisches Flair, das in bezug auf Adina eher übermutig als schüchtern genannt werden könnte. Rita Streich klingt jedoch neben diesem Nemorino nicht als die logische Adina: ihr jugendlich-silberner Gesang - wie prachtvoll auch - charakterisiert nicht genug die geistreiche und emanzipierte Frau, die Adina ist. Das geht Stina-Britta Melander 10 Jahre später leichter von der Hand).Auf der Suche nach ergänzendem Material über 'Una furtiva lagrima' hörte ich Aufnahmen von
- Placido Domingo: Nicht glaubenswürdig als Nemorino: zu schwer. Technisch perfekt, ohne Übertreibungen.
- Luciano Pavarotti (spätere Video-Aufnahme 'mit dem Taschentuch'): Pavarotti singt 'Pavarotti' statt 'Nemorino'
- Fritz Wunderlich: goldene Stimme, aber singt Händel statt Donizetti. Ausgesponnene Romanze dauert mehr als 6 Minuten. Der Text ('Wohl drang aus meinem Herzen ein Seufzer zu mir her') ist die neuere deutsche Übersetzung von Wilhelm Zentner.
- Enrico Caruso (1904: 31 Jahre alt): Demonstriert Einfachheit, zwei kleine Verzierungen. Überzeugt völlig als Nemorino. Auffallend schnelle Ausführung: 4.13 Minuten
- Rudolf Schock: alle Versionen dauern ungefähr 4.30 Minuten.
Bemerkenswert ist noch, dass eine ähnliche Drohung auch in einer voraussehenden Metapher aus dem 1. Akt klingt (Duett Adina-Nemorino: 'Frag' doch, warum der Zephir...'): Nemorino sieht sich als die Quelle, die vom Felsen her, hin zum Meere sich verlieret, 'wo der Tod sie kalt empfängt'. Zusammengefasst: weniger 'Schmelz', mehr Tiefe.
Für den 'Schmelz' gibt es besonders Schocks italienisch gesungene Romanzen: 1950 - unter einem differenziert dirigierenden Hans Löwlein - die allerschönste mit Rudolf Schock in Höchstform, sowohl was den Belcanto, als die dramatische Intensität betrifft. Im Jahre 1955 steht er unter Wilhelm Schüchter an schönem Gesang der Version aus 1950 kaum etwas nach. Im Jahre 1963 - wieder unter Schüchter - tendiert seine verhaltenere, italienische Darstellung zu den Betrachtungen, die zur Interpretation aus 1962 geführt haben müssen. Die letzte Romanze - live aus München - wurde 1965 in einem Konzert unter dem italienischen Dirigenten Arego Quadri gesungen. Neben Schock sangen in diesem Konzert die Sopranistin Claire Watson und der Bariton Tom Krause. Ein jetzt wieder 'italienischer' Rudolf Schock macht mit dieser Aufnahme deutlich, zu welch einem eindrucksvollen Nemorino er auch in den Sechzigern noch imstande war.
Krijn de Lege, 4. überarbeitete Version, 18.9.2017
NB: Fotos der 'Deutschen Fotothek/SLUB-Dresden wurden mit schriftlicher Genehmigung zur Veröffentlichung (15.8.2017) genutzt.
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Die Aufnahme von 'Lucia di Lammermoor' mit u.a. Erika Köth, Josef Metternich und Rudolf Schock wird in: 'RUDOLF SCHOCK SINGT GAETANO DONIZETTI (2)' besprochen.