08.08.18

RUDOLF SCHOCK sings IMRE (EMMERICH) KÁLMÁN (5: Das Veilchen vom Montmartre) D e u t s c h e V e r s i o n

Imre Kálmán:
Das Veilchen vom Montmartre/Violett of Montmartre/Viooltje van Montmartre - 1930

STUDIO-AUFNAHME 1958: 

LIVE-AUFNAHME 1959: 

HEUT' NACHT HAB' ICH GETRÄUMT 1959:

In Referenzdokumenten über das Phänomen 'OPERETTE' wird Imre Kálmán als einer der bedeutendsten Komponisten dieser Musikgattung gelobt.
Aber 'Das Veilchen vom Montmartre' auf Texten von Julius Brammer & Alfred Grünwald trifft den Geschmack der Operettenexperten kaum: sie sehen 'Das Veilchen' als einen Fehlschlag.

Aus der Leistungsgeschichte dieser Operette stellt sich das nicht so klar heraus:
1930/1931 finden in Wien und danach Berlin gelungene Premieren statt. Die Amerikaner beeilen sich - noch 1930 - das Werk unter dem Titel 'Paris in Spring' auszuführen, und Paris & London machen 1932 mit der Operette Bekanntschaft. Noch in diesem Jahrhundert signaliere ich Vorstellungen in den VS (Ohio 2004), Belgien (Kortrijk 2017), Ukraine (Kiev 2016 und 2018), Russland (Moskau und St. Petersburg 2012), Estland und LettlandAuffallend ist die Popularität der Operette in Osteuropa, wo sie in verschiedenen slawischen Muttersprachen gesungen wird (Siehe YouTube!).
In Deutschland, Österreich und Ungarn (Kálmán ist von Herkunft ja ein Ungar!) scheint das Werk vergessen zu sein ausser einem Tango, der in der allerersten Wiener Premiere nicht, aber in der Berliner Erstvorstellung wohl gesungen wurde: 'Heut' Nacht hab' ich geträumt von dir' (Text: Alfred Grünwald)!  

Werner Schmidt-Boelcke dirigierte 1952 im Rundfunk die nahezu komplette Wiener Urversion von 'Das Veilchen'. Also ohne das Lied 'Heut' Nacht...'! Diese Aufnahme ist gibt es auf CD und YouTube. Die wichtigsten Rollen singen eine sehr junge Erika Köth (27 Jahre alt) und der Tenor Richard Holm (1912-1988).

'Heut' Nacht hab' ich geträumt von dir' ging den eigenen Weg und trat ins Repertoire berühmter Tenöre ein: Auf YouTube sind - von der Operette losgelöst - Darstellungen zu hören von u.a. Helge Roswaenge. Jussi Björling (auf Schwedisch!), Rudolf Schock (1958 im Film 'Der Czárdáskönig'), Nicolai Gedda, Piotr Beczala und Juan Diego Flórez (der sichselbst auf Gitarre begleitet).

Laut Vera Kálmán hat ihr Mann, Imre, das Lied für sie komponiert. Das könnte gewiss so sein, denn 1929 heiratet der dann 47-jährige, ernsthaft verliebte Imre Kálmán mit der 22- oder 19-jährigen russischen Zuwanderin Vera Mendelsohn.

Wovon handelt 'Das Veilchen vom Montmartre' ?
Raoul (ist Eugène) Delacroix, ein Maler, Florimond Hervé, ein Komponist und Henri Murger, ein Dichter leben ohne Arbeit und Geld in einem Dachzimmer in Montmartre.
Das Einkommen von Ninon, Raouls Freundin, die ihm posiert und auch anderswo in Paris als Modell aktiv ist, macht, dass die drei Künstler nicht verhungern.
Violetta, eine liebenswerte, integere Strassensängerin, die dazu Veilchen verkauft, schliesst sich an. Raouls Liebe für Ninon gerät ins Wanken. 
Florimond und Henri arbeiten an einer neuen Operette. Ninon wird darin die Hauptrolle spielen. Es wird ihr aber deutlich, dass Raoul Violettas Charme erliegt. Während der Premiere nach dem 1. Akt flieht Ninon zusammen mit einem wohlhabenden Wohltäter.
Violetta springt mit grossem Erfolg für sie ein und rettet die Vorstellung.

'Das Veilchen vom Montmartre' ist kein Fehlschlag!
Die amerikanische Mezzosopran Jessie Wright Martin beschäftigte sich 2005 eingehend mit Imre Kálmáns Operetten.

Mit ihrer Probearbeit "A survey of the operettas of Emmerich Kálmán" machte sie ihren Doktor der Musik an der Universität von Louisiana. 
Dr. Martin lobt die Originalität von 'The Violet of Montmartre': "...eine faszinierende Mischung von 'French music hall' und himmlische pucciniartige Melodiesüsse...mit Harmonien, die viel mehr mit dem musikalischen Spektrum von Erich Wolfgang von Korngold und Richard Strauss assoziieren als mit dem der Operette...".

Ich bemerke, für den gefeierten Komponisten Kálmán muss der Sprung ins Liebesabenteuer mit der unbekannten Glückssucherin Vera eine grosse Quelle der Inspiration gewesen sein. Der Dekor vom 'Veilchen vom Montmartre' ist dem von Puccinis realistischen Oper 'La Bohème' ähnlich. Das 'vie de bohème', das seine fünf Hauptdarsteller führen, ist tatsächlich 'das gewöhnliche Alltagsleben', worauf Kálmán immer wieder verweist. Dort liegt seine Sympathie, das Wesen seines Charakters, das sich nach gewöhnlichen Menschen sehnt, die die Kunst in sich mittragen. Wie herumwandernde Zigeuner oder Zirkusartisten. Wie der echte, romantische Maler Eugène Delacroix (1778-1863), wie der echte Komponist Florimond Hervé (1825-1892) und wie der echte Dichter Henri Murger (1822-1861), Verfasser von 'Scènes de la Vie de Bohème'. Und wie der echte Emmerich Kálmán, der berühmte, aber gewöhnliche Komponist, der sich eines gewöhnlichen Mädchens annimmt und sie an einem hinreissenden Leben für die Künste teilnehmen lässt.   
Kálmán kannte ohne Zweifel Bernard Shaws Schauspiel 'Pygmalion' (1913). Dann ist es denkbar, dass für die Figur des Veilchenmädchens Violetta Shaws Blumenmädchen Eliza Doolittle Modell gestanden hat (Vgl. auch das Musical 'My fair Lady'!). Aber nicht nur Eliza Doolittle. Auch Vera Mendelsohn

Rudolf Schock & Erika Köth in 'Das Veilchen vom Montmartre'
Am 19. April 1959 bildet - überraschend genug - eine WIENER (also authentische) Melodienfolge aus der "fast vergessenen" Kálmán-Operette 'Das Veilchen von Montmartre'  das grosse Finale eines Münchener SonntagskonzertsErika Köth ist Violetta, Rudolf Schock Raoul Delacroix und Kurt Eichhorn dirigiert das 'Münchner Rundfunkorchester' (siehe ganz oben!)

Die jüngsten Überraschungen kommen von Herrn Franz Hainzl (Wien), und dafür bin ich ihm sehr dankbar!!
Herr Hainzl bot mir die Gelegenheit, ZWEI nie offiziell veröffentlichte Aufnahmen zu publizieren:
1) eine zweite, nahezu identische Wiener Melodienfolge von „Veilchen vom Montmartre“ aus dem Münchner Rundfunkstudio am 18. Juni 1958 mit Erika Köth, Rudolf Schock, jedoch mit einem anderen Dirigenten: Werner Schmidt-Boelcke (siehe ganz oben!)
2) eine sehr gut klingende Schock-Aufnahme von Raouls „Heut' Nacht hab ich geträumt von dir“ (19. April 1959), erneut dirigiert von Schmidt-Boelcke (siehe ganz oben!)
 

Rudolf Schock singt Raouls 'Heut' Nacht hab' ich...'

Schock & Orchester dämpfen den Tangotakt, was (zufälligerweise?) ein Kennzeichen des milderen "argentinischen Stils" ist. Dieser betont gerade die Melodie. Melodiösität und pregnante Textübertragung schaffen in Rudolf Schocks durchdachter Darstellung ein 'Chanson', worin Melancholie, über was passiert ist, vorherrscht. Wahrscheinlich sang Raoul das Lied im ersten Akt der Berliner Premiere, und bezog sich diese Wehmut auf den endgültigen Abschied von Ninon. 

Bemerkungen über andere Interpretationen auf YouTube von 'Heut' Nacht...':
Der grosse schwedische Tenor Jussi Björling überzeugt - auch auf Schwedisch - ganz.  Die Orchesterbegleitung legt zwar einerseits den Nachdruck auf den Tangotakt, aber andrerseits bietet sie dem Sänger ausreichend Raum für aufrichtige Leidenschaft.

Der genauso grosse dänische Tenor Helge Roswaenge, der sowohl in 'Helden'- als auch in lyrischen Rollen glänzte, scheint im 100% lyrischen Vortrag einer berückend-nostalgischen Ausführung der Comedian Harmonists zu folgen. Roswaenges Orchester wählt ein straffes Tangotempo, wogegen Roswaenge's Gesang merkwürdig absticht.

Im Jahre 2012 singt Piotr Beczala live 'Heut' Nacht...' in bezug auf Vokalität, Phrasierung und Diktion eindrucksvoll. Aber das Lied kling eher sorglos, ja, selbst herzensfroh als wehmutsvoll. 

Auch Nicolai Gedda macht es - für mich sehr unerwartet - zum rein äusserlich gerichteten Tenorschlager, der grandios klingt, aber den wehmütigen Traum ignoriert.

Ein noch merkwürdiger Fall ist die Live-Performance von Juan Diego Flórez.
Der peruanische Sänger verbreitet - mit Gitarrenbegleitung von sich selbst - eine atemlos-gefühlvolle, lateinamerikanische Atmosphäre, die träumerisch und wehmütig macht. Am Schluss aber reisst er durch ein unglaublich grelles, hohes, pistolenschuss-ähnliches fortississimo Traum und Wehmut final in Stücke. 

1958: 
Filmfragment aus 'Der Czárdáskönig/The Emmerich Kálmán-Story' (Regie: Harald Philipp) mit u.a. Rudolf Schocks - gekürzte - Version von Kálmán/Grünwalds 'Heut' Nacht hab' ich geträumt von dir'!

Dieser Kinofilm blieb etwas im Hintergrund, weil 1958 noch zwei Filme mit Rudolf Schock mehr Aufmerksamkeit erregten: 'Gräfin Mariza' und 'Das Dreimäderlhaus'.
Wie der "amerikanische" Titel meldet, geht der Film über Kálmáns Leben.
Die überromantisierende Biographie beschränkt sich auf die Jahre, worin der junge Imre Kálmán versucht, als Opern- und Konzert-Komponist bekannt zu werden, aber dann auf einmal einen grossen Karrierenwandel zur Operette  macht.
Er schliesst Freundschaft mit Operettentenor Janos Hegedüsh, der in Premieren Kálmáns erster Operetten die wichtigste Tenorpartie singt.
Der Film stoppt beim Mega-Erfolg der 'Czárdásfürstin' (1915).

Gerhard Riedmann spielt Kálmán und Rudolf Schock Hegedüsh.
Um Kálmáns Musik moderner klingen zu lassen, werden bemerkenswerte Anachronismen eingebaut, worunter ein Rock'n'Roll-Arrangement à la Bill Haley & his Comets…

Krijn de Lege, 26.6.2023

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